Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches

Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches

Titel: Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mitch Albom
Vom Netzwerk:
Hand, wie er es bei anderen getan hatte.
    Ich versuchte zu lächeln. Er blinzelte hinter seinen Brillengläsern.
    Gut, sagte ich. Ich komme bald wieder.
    Er nickte schwach.
    »Sie … okay … ja«, flüsterte er.
    Etwas anderes konnte ich nicht tun. Der Rebbe konnte keinen vollständigen Satz mehr sprechen. Und ich hatte den Eindruck, dass jeder meiner kläglichen Gesprächsversuche ihn quälte. Er schien genau zu wissen, was mit ihm geschehen war, und ich fürchtete, dass meine Miene ihm meine Erschütterung über den schrecklichen Verlust verraten würde. Durfte so etwas geschehen? Dieser weise und beredte Mann, der noch wenige Wochen zuvor mit mir über Glaubensfragen debattiert hatte, war nun seiner kostbarsten Fähigkeit beraubt: Er konnte nicht mehr lehren, er konnte mit seinem wunderbaren Geist keine wunderbaren Sätze mehr formen.
    Er konnte nicht einmal mehr singen.
    Er konnte mir nur noch die Hand drücken und seinen Mund auf- und zumachen.
    Auf dem Heimflug schrieb ich ein paar Sätze. Meine Trauerrede, fürchtete ich, würde nun wohl bald fällig sein.

Aus einer Predigt des Rebbe

    »Wenn Sie mich fragen, warum dieses bezaubernde Kind – das so viel zu geben hatte – sterben musste, kann ich Ihnen keine vernünftige Antwort darauf geben, denn ich weiß es nicht.
    Aber in einem Bibelkommentar hören wir, dass Adam, der erste Mensch, länger als jeder andere leben sollte, nämlich zehntausend Jahre. Doch dem war nicht so. Unsere Weisen versuchten dies zu erklären und berichteten das Folgende:
    Adam bat Gott inständig, ihm einen Blick in die Zukunft zu gewähren. Da sprach Gott: ›Komm mit mir.‹ Und er führte ihn durch die himmlischen Gemächer, wo die Seelen, die geboren werden sollten, darauf warteten, bis sie an der Reihe waren. Jede Seele war eine Flamme. Adam sah einige Flammen lodern, andere dagegen nur schwächlich flackern.
    Dann entdeckte er eine wunderbare klare kraftvolle und heilsame orangegoldene Flamme. Adam sprach: ›Das wird ein großartiger Mensch werden, oh Herr. Wann wird er geboren werden?‹
    Gott antwortete: ›Ich bedaure, Adam, aber diese Seele, so schön sie auch sein mag, wird niemals geboren werden. Es ist vorhergesagt worden, dass sie Sünde begehen und sich selbst schädigen wird. Ich habe daher entschieden, ihr die Scham zu ersparen, sich selbst zu besudeln.‹
    Adam flehte: ›Aber, Herr, der Mensch braucht jemanden, den er lehren und leiten kann. Bitte, nimm meinen Kindern nichts weg.‹
    Gott antwortete sanft: ›Meine Entscheidung ist gefallen. Ich habe keine Zeit mehr übrig, die ich ihm zuweisen könnte.‹
    Darauf erwiderte Adam kühn: ›Und wenn ich einige Jahre meines eigenen Lebens zur Verfügung stellen würde, Herr?‹
    Und Gott antwortete: ›Wenn dies dein Wunsch ist, Adam, so will ich ihn dir gewähren.‹
    Wir wissen, dass Adam nicht mit 1000, sondern mit 930 Jahren gestorben ist. Und Äonen später kam in der Stadt Bethlehem ein Kind zur Welt. Er wurde König von Israel und ein begnadeter Sänger. Nachdem er sein Volk gerecht regiert und zu Großem angeregt hatte, starb er. Und die Bibel berichtet uns: ›Also legte sich David zu seinen Vätern und wurde begraben in der Stadt Davids.‹
    Meine Freunde, wenn wir manchmal gefragt werden, warum jemand so früh aus dem Leben scheiden muss, kann ich nur in der Weisheit unserer Tradition Rat suchen. Es ist wahr, dass David für seine Zeit nicht lange gelebt hat. Doch während seines Lebens lehrte er, war anderen Vorbild und Anregung und hinterließ uns ein großes geistiges Erbe, darunter den Psalter. Einer der Psalmen, der dreiundzwanzigste, wird manchmal bei Begräbnissen gesprochen.
    Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.
    Er weidet mich auf einer grünen Aue
    und führet mich zum frischen Wasser.
    Er erquicket meine Seele.
    Ist es nicht besser, dass ich Rinah, meine Tochter, vier Jahre lang kennen durfte, anstatt sie niemals kennenzulernen?«

WINTER
    FRÜHLING
    SOMMER
    HERBST

Und es kamen etliche zu ihm, die brachten
einen Gichtbrüchigen von vieren getragen.
Und da sie ihn nicht konnten zu ihm bringen
vor dem Volk, deckten sie das Dach auf, da er
war, und machten eine Öffnung.
    MARKUS 2, 3–4

Wintersonnwende

    A n einem Sonntagmorgen bei Schneetreiben öffnete ich die schwere Tür der Kirche. Niemand hielt sich darin auf, und es war eisig kalt. Der Wind zerrte an der Plastikplane, die das Loch im Dach bedeckte. Irgendwoher hörte ich Orgelspiel, aber kein Mensch war zu sehen.
    » Pssst

Weitere Kostenlose Bücher