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Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches

Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches

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Autoren: Mitch Albom
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kennt nicht den Menschen, der ich jetzt sein will.«
    Mir war sehr unbehaglich zumute, als ich dieser Predigt lauschte. Denn ich musste mir eingestehen, dass ich ähnliche Dinge über Henry gedacht hatte. Ich hatte mich gefragt, ob er in seiner alten Welt in New York lachen und sagen würde: »Ja, Leute, ich hab da jetzt ein andres Ding aufgezogen.«
    Doch stattdessen stand er hier und predigte in einem Plastikzelt.
    »Wir sind nicht unsere Vergangenheit!«, predigte er seiner Gemeinde.
    Haben Sie schon einmal das Gefühl gehabt, eine Predigt sei ganz allein für Sie gehalten worden? Wenn das geschieht, hat es meist mehr mit dem Zuhörer als mit dem Prediger zu tun.

DEZEMBER
Gut und Böse

    N achdem der Rebbe jahrelang so hartnäckig mit allen Krankheiten gekämpft hatte, war ich beinahe geneigt zu glauben, dass er alle besiegen würde; doch das konnte wohl nicht einmal ihm gelingen.
    Was ihn da von einem Tag auf den anderen in einen Menschen verwandelt hatte, der nur noch wirr vor sich hin brabbeln konnte, erwies sich nach einer Weile als tragische Folge seiner diversen Erkrankungen. Er hatte weder einen Schlaganfall noch einen Herzinfarkt erlitten; vielmehr war durch die Vielfalt der Medikamente, die er einnehmen musste, übersehen worden, dass man sein Mittel gegen Schlaganfälle viel zu hoch dosiert hatte. So hoch, dass es ihn quasi vergiftete.
    In anderen Worten: Die Medikamente waren es, die den Rebbe zu einem Schatten seiner selbst machten.
    Als diese Ursache – nach mehreren qualvollen Monaten – endlich entdeckt wurde, passte man sofort die Dosierung an, und der Rebbe erwachte binnen weniger Tage aus seinem Dämmerzustand.
    Ich sprach zuerst mit Gilah und kurz darauf mit Sarah am Telefon.
    »Es ist unglaublich …«, sagten sie. »Kaum zu fassen …«
    Sie klangen so froh, wie ich sie seit Monaten nicht gehört hatte – als sei der Sommer zurückgekehrt. Und als ich den Rebbe schließlich selbst besuchte und ihn mit eigenen Augen in seinem Büro sitzen sah – nun, ich wünschte, ich könnte dieses Gefühl beschreiben. Ich habe Berichte über Komapatienten gelesen, die nach Jahren urplötzlich erwachen, nach einem Stück Schokoladenkuchen verlangen und von ihren Angehörigen mit offenem Mund angestarrt werden. So ähnlich war mir zumute.
    Der Rebbe trug eine seiner Westen mit den vielen Taschen, und er drehte sich in seinem Schreibtischstuhl zu mir um, streckte mir die knochigen Arme entgegen und lächelte dazu in dieser aufgeregten herzlichen Art, die immer Wärme ausstrahlte. »Hello stranger«, sang er – und ich hatte wirklich das Gefühl, jemand sei von den Toten auferstanden.
    Wie hat es sich angefühlt?, fragte ich ihn, nachdem ich mich niedergelassen hatte.
    »Wie ein Nebel«, antwortete er. »Eine dunkle Höhle. Ich war da, aber irgendwie war ich auch nicht da.«
    Dachten Sie, es sei … Sie wissen schon …
    »Das Ende?«
    Ja.
    »Manchmal.«
    Und was haben Sie dann gedacht?
    »Ich dachte hauptsächlich an meine Familie. Ich hätte sie gerne beruhigt, aber ich war hilflos.«
    Sie haben mich halb zu Tode erschreckt – uns alle, sagte ich.
    »Tut mir leid.«
    Nein, ich meine: Das war schließlich nicht Ihre Schuld.
    »Mitch, ich habe mich gefragt, warum das geschehen ist«, sagte er und rieb sich das Kinn. »Warum ich sozusagen verschont worden bin. Ich meine, ein paar Wieauchimmers mehr …«
    Milligramm?
    »Genau. Und es wäre aus gewesen mit mir.«
    Sind Sie nicht wütend darüber?
    Er zuckte die Achseln. »Nun gut, ich bin nicht gerade froh darüber. Aber ich muss glauben, dass die Ärzte ihr Bestes geben.«
    Ich konnte seine Gelassenheit kaum fassen. Die meisten anderen Leute wären bereits beim Anwalt gewesen. Aber der Rebbe fand wohl, dass er nicht gerettet worden war, um Prozesse anzustrengen.
    »Vielleicht habe ich doch noch ein bisschen was zu geben«, sagte er.
    Oder Sie bekommen noch etwas geschenkt.
    »Wer gibt, dem wird auch gegeben«, erwiderte er.
    Ich war ihm wieder einmal in die Falle gegangen.
    Mir war wohl bewusst, dass der Rebbe an diesen ziemlich kitschigen Satz glaubte. Er war tatsächlich am glücklichsten, wenn er jemandem helfen konnte. Aber ich ging davon aus, dass ein Mann Gottes keine andere Wahl hatte. Seine Religion verpflichtete ihn, dem zu folgen, was Abraham Lincoln »die besseren Engel unserer Natur« nannte.
    Andererseits hatte Napoleon die Religion abfällig als das bezeichnet, »was die Armen davon abhält, die Reichen zu ermorden«. Was bedeutete, dass wir

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