Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches
ohne die Gottesfurcht – oder die drohende Hölle, in der wir landen könnten – uns alles nehmen würden, wonach uns der Sinn steht.
Die Schlagzeilen scheinen diese Annahme zu bestätigen. In den vergangenen Monaten hatten Terroristen in Indien Züge in die Luft gesprengt, gierige Manager waren wegen des Enron-Betrugs verurteilt worden, ein Lastwagenfahrer hatte fünf Mädchen in einer Schule der Amischen erschossen, und ein kalifornischer Kongressabgeordneter war im Gefängnis gelandet, weil er Bestechungsgelder in Millionenhöhe eingestrichen und sich währendessen ein schönes Leben auf seiner Jacht gemacht hatte.
Ich fragte den Rebbe an jenem Tag: Glauben Sie, dass der Mensch von Natur aus böse ist?
»Nein«, antwortete er. »Ich glaube, dass es in jedem Menschen etwas Gutes gibt.«
Wir haben also wahrhaftig bessere Engel in uns?
»Im tiefsten Inneren ja.«
Warum geschehen dann so viele schlimme Dinge auf der Welt?
Er seufzte. »Weil Gott uns mit dem freien Willen ausgestattet hat – manchmal fürchte ich, mit etwas zu viel davon. Wir haben vollkommene Entscheidungsfreiheit. Ich glaube, dass Er uns alle Anlagen mitgegeben hat, um eine wunderbare Welt zu schaffen – wenn wir kluge Entscheidungen treffen.
Aber wir können auch sehr schlechte Entscheidungen treffen. Und wir können ein furchtbares Chaos anrichten.«
Kann der Mensch von einer Seite zur anderen wechseln?
Der Rebbe nickte langsam. »Ja, in beide Richtungen.«
Über die Natur des Menschen wird schon seit Jahrhunderten philosophiert. Wenn ein Kind aufwachsen würde, ohne in Berührung mit der Gesellschaft zu kommen, ohne Medien und soziale Kontakte – würde es dann gutmütig und offenherzig sein? Oder wild und blutrünstig und nur auf sein eigenes Überleben bedacht?
Wir werden es niemals erfahren. Schließlich werden wir nicht von Wölfen aufgezogen. Aber wir ringen mit inneren Widersprüchen. Die Christen glauben, dass Satan uns zum Bösen verleiten will. Die Hindus sehen das Böse als Bedrohung des Gleichgewichts des Lebens. Im Judentum wird die Neigung des Menschen zu seinen guten Anteilen stets als Kampf mit seinen bösen Anteilen betrachtet: Der böse Teil kann zu Beginn nur ein dünnes Fädchen sein, doch wenn man es wachsen lässt, kann ein dickes Seil daraus werden.
Der Rebbe hielt einmal eine Predigt zu dem Thema, in der er darstellte, wie ein und dasselbe gut oder böse sein kann, je nachdem, wie wir mit unserem freien Willen damit umgehen. Sprache kann segnen oder verfluchen. Geld kann retten oder zerstören. Wissenschaft kann heilen oder töten. Sogar die Natur kann für oder gegen den Menschen sein: Feuer kann wärmen oder verbrennen, Wasser kann Leben erhalten oder als Flut Leben vernichten.
»Aber nirgendwo in der Schöpfungsgeschichte«, sagte der Rebbe, »kommt das Wort ›böse‹ vor. Gott hat nichts Böses geschaffen.«
Er überlässt die Entscheidung also uns?
»Ganz recht«, antwortete der Rebbe. »Nun, ich glaube, dass es Momente gibt, in denen Gott die Fäuste ballt und sagt: ›Oh, tu es nicht, du machst dich doch nur unglücklich.‹ Und man könnte sich nun fragen, warum Gott dann nicht eingreift? Warum vernichtet er nicht das Negative und stärkt das Positive?
Weil Gott von Anfang an gesagt hat: Ich werde diese Welt in eure Hände legen. Wenn ich alles bestimme, dann ist das nicht recht. Deshalb tragen wir ein Stück Göttlichkeit in uns, aber auch diesen freien Willen, und ich glaube, dass Gott uns tagtäglich liebevoll beobachtet und betet, dass wir die richtigen Entscheidungen treffen.«
Glauben Sie wirklich, dass Gott betet?
»Ich denke, dass Gott und das Gebet untrennbar miteinander verbunden sind«, antwortete der Rebbe.
Ich blickte den Rebbe an und sann staunend darüber nach, wie er jetzt wieder sprach, scherzte und Gedanken formulierte. Noch vor wenigen Wochen sorgte man sich um ihn und vergoss Tränen. Und nun das. Seine Tochter bezeichnete seine Genesung als Wunder – was es vielleicht auch war. Ich für mein Teil war einfach nur froh darüber, ihn wieder so lebendig zu sehen – und das Verfassen seiner Trauerrede vertagen zu können.
Draußen hupte jemand. Mein Taxi war da.
»So jedenfalls«, sagte der Rebbe abschließend, »sieht mein Leben in letzter Zeit aus.«
Ich stand auf und umarmte ihn – ein wenig ungestümer als sonst.
Und Sie machen uns jetzt nicht mehr solche Angst, ja?
»Ah«, lachte er und wies mit dem Daumen himmelwärts. »Das müssen Sie mit dem Chef
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