Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches

Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches

Titel: Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mitch Albom
Vom Netzwerk:
besprechen.«

Cass’ Leben

    So sieht mein Leben in letzter Zeit aus . Mir gefiel die Formulierung des Rebbe, denn wir haben so viele Formen von Leben zwischen Geburt und Tod. Wir haben ein Leben als Kind. Ein Leben als Heranwachsender. Ein Leben, in dem wir umherziehen, uns niederlassen, uns verlieben, Eltern werden, unsere Potenziale entdecken, uns der Sterblichkeit bewusst werden – und uns im besten Falle mit diesem Bewusstsein entsprechend verhalten.
    Dem Rebbe war das geglückt.
    Und auch einem anderen Mann, den ich kannte.
    Nicht Henry – obwohl er auch viele unterschiedliche Leben gehabt hatte.
    Nein, ich meine diesen vertrauenswürdigen Kirchenältesten, den einbeinigen Mann, der mich belagerte und beschwatzte, bis ich mir schließlich Zeit für ihn nahm und er an einem kalten Abend im Plastikzelt in der Kirche mit rauer Stimme zu mir sagte: »Ich muss Ihnen das erzählen, Mister Mitch …«
    Wie sich herausstellte, hatte Anthony »Cass« Castelow eine erstaunliche Lebensgeschichte: Aus einer großen Familie stammend, war er Spitzensportler gewesen und zur Armee gegangen. Als er wiederkam, wurde er Drogendealer.
    »Aber was ich Ihnen wirklich erzählen will, kommt jetzt …«
    Und das war die Geschichte seines Lebens in letzter Zeit.
    »Vor achtzehn Jahren – damals hatte ich noch zwei Beine – hat mir jemand in einem Lokal namens ›Sweetheart’s Bar‹ ein Messer in den Bauch gerammt. Ich hab da Drogen verdealt. Auf einmal kamen zwei Typen rein. Der eine packte mich von hinten, der andere schnappte sich den Stoff und stach mir das Messer in den Bauch. Im Krankenhaus wäre ich um ein Haar gestorben. Ich hab Blut gespuckt, und die Ärzte meinten, ich könnte froh sein, wenn ich die Nacht überlebte. Aber als ich dann rauskam, machte ich mit den Drogen weiter.
    Dauerte nicht lange, dann bin ich deshalb im Knast gelandet. Für drei Jahre. Dort bin ich Muslim geworden, weil die Muslime keine Drogen nahmen und ihren Körper pflegten. Ein Typ da drin, Usur, zeigte mir, wie man betet, wie man fünfmal am Tag auf den Gebetsmatten das Salah spricht, ›Alahu Akbar‹.
    Aber danach flüsterte Usur immer: ›Im Namen Jesu Christi, Amen.‹ Eines Tages nahm ich ihn beiseite und fragte ihn, warum er das machte. Und er sagte: ›Hör zu, Mann, hier drin bin ich Muslim, aber meine Familie da draußen, das sind Christen. Ich weiß nicht, ob mich nach diesem Leben Allah oder Jesus erwartet. Ich versuch nur, einen Ort in der Ewigkeit für mich zu finden, verstehst du? Weil ich hier nie wieder rauskomme, Cass. Kapierst du? Ich werd hier drin sterben .‹
    Tja, ich kam raus, und ich kriegte es nicht geregelt. Ich vergaß Gott völlig und war ständig auf Droge – Crack, Pillen, Dope. Hab mein ganzes Geld verpulvert. Dann hatte ich kein Zuhause mehr, ging zurück in die Sozialsiedlung, in der ich groß geworden war. Die war inzwischen verlassen, weil sie abgerissen werden sollte. Ich trat eine Tür ein und schlief dort in den Räumen.
    Das war meine erste Nacht als Obdachloser.
    Ich hörte Cass zu und nickte. Mir war immer noch nicht ganz klar, wo das Ganze hinführen sollte. Mit seiner Brille, dem über die Ohren gezogenen Hut und seinem ergrauten Bart wirkte Cass beinahe wie ein gealterter Jazzmusiker, aber die abgetragene braune Jacke, das amputierte Bein und die wenigen braunen Zahnstummel in seinem Mund verwiesen auf eine andere Wahrheit.
    Weil Cass seine Geschichte unbedingt zu Ende erzählen wollte, rieb ich mir die Hände, um warm zu bleiben, und sagte: »Wie ging’s weiter, Cass?« Es war so kalt in der Kirche, dass unser Atem Wolken bildete.
    »Okay, eine Sache, Mister Mitch: Ein paar Mal bin ich in dieser Siedlung fast umgekommen. Einmal, als ich nachts zurückkam, hat mir jemand einen Pistolengriff über den Schädel gezogen. Ich weiß bis heute nicht, warum. Aber sie haben mich einfach da liegen lassen, mit ’ner blutenden Kopfwunde, runtergezogener Hose und umgedrehten Taschen.«
    Cass beugte sich vor und nahm seinen Hut ab. Auf seinem Kopf war eine circa acht Zentimeter lange Narbe zu sehen.
    »Sehen Sie die?«
    Er setzte den Hut wieder auf.
    »Wie wir damals lebten, hat man sich jeden Abend mit Drogen oder Alk oder irgendwas zugedröhnt, um zu vergessen, dass man kein Zuhause mehr hat. Hie und da hab ich mir ein bisschen Geld verdient. Hab in einer Bar den Müll rausgetragen, gebettelt und natürlich gestohlen. Bei Hockey- und Baseballspielen konnte man sich immer welche von diesen orangen Dingern

Weitere Kostenlose Bücher