Damon Knights Collection 10
das gequälte Schreien eines Babys. Nur wenn der Wind von Nordwesten kam, mit mehr als dreißig Meilen in der Stunde. Sie hatten immer wieder nach der winzigen Ritze gesucht, die dafür verantwortlich sein mußte, und sie hatten abgedichtet und verkleidet und geflickt, bis sie sicher waren, daß es keine Lücke mehr geben konnte, aber es gab doch eine, und nun konnte sie das Baby weinen hören.
Julia starrte ins Feuer, versuchte nicht auf das Wimmern zu achten, zwang sich, nicht daran zu denken, sich nicht daran zu erinnern, wann sie das Baby zum ersten Male gehört hatte. Sie starrte ins Feuer und konnte die Bilder nicht verdrängen, die aufstiegen und sich vor ihren Augen formten. Sie war plötzlich hochgeschreckt, wie manchmal bei den Träumen, die sie während der letzten Monate ihrer Schwangerschaft hat te. Ohne nachzudenken, schlüpfte sie aus dem Bett, tastete im Dunkel nach ihren Hausschuhen, warf sich hastig den Morgenmantel um die Schultern. Sie rannte durch den Korridor zum Kinderzimmer, und an der Tür blieb sie verwirrt stehen. Sie preßte eine Hand gegen den flachen Leib und die andere vor den Mund, biß sich auf die Knöchel, bis sie Blut schmeckte. Das Baby weinte immer noch. Sie schüttelte den Kopf, griff nach dem Türknauf und drehte ihn herum, schob die Tür lautlos auf. Im Zimmer war es dunkel. Sie stand auf der Schwelle und hatte Angst, näherzutreten. Das Baby weinte wieder. Dann drückte sie die Tür weit auf, und das Licht aus dem Korridor überflutete den leeren Raum. Sie wurde ohnmächtig.
Als sie Stunden später erwachte, lag graues Licht kalt auf dem nackten Boden, strömte von den gelblichen Wänden. Sie richtete sich mühsam auf, steif und fiebrig. War sie schlafgewandelt? Nach einem allzu lebhaften Traum schlafgewandelt? Sie horchte; im Haus war es still bis auf die üblichen Nachtgeräusche. Sie ging wieder zu Bett. Martie protestierte im Schlaf, als sie sich gegen seinen warmen Körper schmiegte, aber er drehte sich um und machte ihr Platz, und er leg te den Arm um sie. Sie sagte am nächsten Tag nichts von ihrem Traum.
Ein halbes Jahr später hörte sie das Baby wieder. Al lein diesmal, am Spätnachmittag eines goldenen Herbsttages, an dem sie sehr beschäftigt und beinahe glücklich gewesen war. Sie hatte mit ihrer Freundin Phyllis Govern Nüsse gesammelt. Sie hatten spät Lunch gegessen, und dann mußte Phyllis in aller Eile aufbrechen, weil es schon auf vier zuging. Wind war aufgekommen, und er drohte zu einem Sturm anzuwachsen. Julia sah eine halbe Stunde zu, wie sich die Wolken zusammenballten.
Sie war in ihrem Atelier, im Obergeschoß des Stalls, wo es auch jetzt, nach fünfzehn oder zwanzig Jahren, noch nach Heu zu duften schien. Sie wußte, daß es Einbildung war, aber sie spielte gern mit dem Gedanken, daß sie das Heu riechen und die Wärme der Tiere von unten spüren konnte. Sie hatte fast ein Jahr nicht mehr in ihrem Atelier gearbeitet, seit dem Spätstadium ihrer Schwangerschaft, als sie die schmale steile Leiter nicht mehr schaffte, die vom Erdgeschoß auf den Balkon zu den oberen Räumen führte. Sie deckte nichts ab in dem großen Studio, aber es tat ihr wohl, hier zu sein. Sie brauchte Ton, dachte sie geistesabwesend, während sie die Wolken vom Nordwesten heraufziehen sah. Es würde ihr gut tun, wieder Ton zwischen den Fingern zu spüren. Sie könnte ein paar Weihnachtsgeschenke machen. Kleinigkeiten, lustige Kleinigkeiten, um den Leuten zu verstehen zu geben, daß alles wieder in Ordnung war, daß sie nun bald wieder arbeiten würde. Sie warf einen Blick auf die großen Granitblöcke, die sie vorher bestellt hatte. Noch nicht. Noch nichts Ernsthaftes. Für den Anfang etwas Leichtes, Belangloses.
Immer noch nachdenklich verließ sie das Atelier, ging in die Küche ans Telefon, um dem Kaufmann in der Stadt ihre Bestelliste durchzugeben. Während sie auf die Verbindung wartete, hörte sie es. Das Baby hat Schmerzen, dachte sie und legte auf. Erst als sie auf die Dielentür zuging, kam ihr zu Bewußtsein, was sie tat. Sie blieb stehen, mit einem Mal fröstelnd. Wie damals, nur war sie diesmal hellwach. Sie tastete nach der Tür und schob sie einen Spalt auf. Der Laut war immer noch da, nicht stärker, aber auch nicht schwächer. Ganz langsam folgte sie ihm die Treppe hinauf, durch den Korridor, in das leere Zimmer. Sie war so sicher gewesen, daß er von hier kam, aber nun schien er doch aus einem anderen Raum zu dringen. Sie ging zurück in den Korridor und
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