Danach
wollte Christine wissen und beugte sich interessiert nach vorne.
»Weil ich sie schlicht und ergreifend für eine Sekte halte, und da bin ich nicht die Einzige. Allerdings weiß ich nicht sehr viel über die Gruppe«, fügte sie schnell hinzu. »In die Ermittlungen verwickelt zu werden ist wirklich das Letzte, was ich will.«
»Mrs Watson, ich habe gehört, dass Sie als junges Mädchen mit Noah von hier fortgegangen sind und einige Jahre weg waren. Können Sie uns etwas über diese Zeit erzählen?«
Sie baute sich noch größer vor uns auf und schien gleichzeitig überrascht und empört, dass wir es wagten, diese Ereignisse auch nur zu erwähnen. Offenbar tuschelten die Leute im Ort nur hinter ihrem Rücken und sprachen sie nie direkt auf ihre Vergangenheit an. Nachdem sie uns noch einmal misstrauisch beäugt hatte, nahm sie ebenfalls auf einer Bank in der Kapelle Platz. Es war offensichtlich, dass sie uns jetzt ein wenig ernster nahm.
»Und wem habe ich das Verbreiten dieser Information zu verdanken?«, fragte sie spitz. »Das war eine schwierige Zeit in meinem Leben, an die ich nicht gerne erinnert werde.«
»Was ist damals passiert, Mrs Watson?« Jetzt war ich es, die sich vorbeugte und sie eindringlich ansah. »Sie müssen es uns erzählen. Wenn ich Ihnen unser eigenes Geheimnis verrate, verstehen Sie vielleicht, warum das so wichtig für uns ist.« Ich blickte zu Tracy und Christine, um ihre Zustimmung einzuholen. Beide nickten.
»Bei meinem letzten Besuch habe ich behauptet, ich würde Caroline Morrow heißen, aber das stimmt nicht. In Wirklichkeit heiße ich Sarah Farber, und das hier sind Tracy Elwes und Christine McMasters. Erkennen Sie unsere Namen, Mrs Watson?«
Sie starrte uns ungläubig an.
»Sind Sie etwa die Mädchen, die … die Jack Derber all die Jahre in seinem Keller eingesperrt hatte?«
»Ich würde es eher ein Verlies nennen. Ja, genau die sind wir.«
Mrs Watson schossen die Tränen in die Augen. »Es tut mir unendlich leid, welche schrecklichen Dinge Sie erleiden mussten, aber was hat das mit Noah zu tun? Ich meine, er hatte natürlich seine Fehler, kein Zweifel.« Sie wählte ihre Worte mit Bedacht und erweckte ganz den Eindruck, als hätte sie immer noch Angst vor ihm. »Aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass er etwas mit Jack Derber zu tun hatte.«
»Genau das versuchen wir herauszufinden, Mrs Watson. Wir glauben nämlich, dass zwischen den beiden eine Verbindung besteht«, erklärte ich.
»Und wenn Sie erfahren, was Noah noch alles getan hat, werden Sie auch verstehen, warum wir das glauben«, fügte Tracy hinzu.
Sie wirkte plötzlich sehr aufgebracht. »Wegen was wird er … Was hat er angestellt?«
»Menschenhandel, Mrs Watson. Er hat Mädchen verkauft. Seine Glaubensgemeinschaft, oder wie auch immer man sie nennen möchte, war nur Tarnung. Und wir glauben, dass auch Jack Derber seine Finger im Spiel hat.«
Zu unserer Überraschung gab Helen Watson ihre steife Körperhaltung auf und fing leise an zu weinen. Sie zog sofort ein Taschentuch heraus, um sich die Tränen abzuwischen, aber je mehr sie gegen die Tränen ankämpfte, desto heftiger brach das Schluchzen aus ihr hervor. Tracy und ich warfen uns einen vielsagenden Blick zu. Sie musste es geahnt haben. Ihr Gefühlsausbruch kam nicht von ungefähr, ihm lagen offenbar tiefe Schuldgefühle zugrunde. Wir ließen ihr Zeit, sich wieder zu beruhigen, zumal keine von uns wusste, wie es weitergehen sollte.
»Mrs Watson«, sagte ich schließlich. »Ich kann mir vorstellen, wie schwer es für Sie ist, dass jemand, den Sie … den Sie einmal geliebt haben … und den Sie seit der Kindheit kannten …«
Sie schüttelte den Kopf, setzte sich aufrecht hin und schlug die Hand vor den Mund. Nachdem sie nachdenklich aus dem Fenster gestarrt hatte, holte sie tief Luft und sagte: »Nicht seit der Kindheit. Ich bin erst als Jugendliche hierhergezogen. Als wir zusammenkamen, waren wir beide sechzehn. Aber es … entschuldigen Sie mich bitte.« Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen und wirkte ein wenig gefasster, als sie kurz darauf wieder den Kopf hob.
»Am Anfang war es eine sehr enge Beziehung … jedenfalls dachte ich das. Ich meine, ich … ich habe mir zwar Sorgen gemacht, als er später seine Sekte gegründet hat, aber ich dachte … es ginge nur um Geld. Das hört man schließlich immer wieder, dass Mitglieder von Glaubensgemeinschaften finanziell ausgenutzt werden. Trotzdem habe ich oft für Noah gebetet.
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