Danach
Sachen jetzt?«
»Ich bewahre sie hier im Büro auf. Ich wollte sie nicht offen herumliegen lassen, und der Safe im Büro ist die einzige Möglichkeit, sie sicher zu verschließen«, erklärte sie.
»Können wir sie sehen?«
Sie stand langsam auf und wischte sich die Augen trocken. Dann führte sie uns zu einem ordentlichen kleinen Büro am Ende des Flurs und verschwand in einer Kammer. Wir hörten das leise Klicken eines Schlosses, bevor sie mit dem Umschlag und dem Foto wieder herauskam.
»Ich bin mir zwar sicher, dass beides völlig bedeutungslos ist, aber bitte.«
Sie legte die beiden Gegenstände auf den Schreibtisch, und Tracy, Christine und ich stießen beinahe mit den Köpfen zusammen, so hastig beugten wir uns über das Foto. Es zeigte einen etwa vierzehnjährigen Noah Philben, der in den Himmel hinaufblickte und über etwas lachte, was der andere Junge auf dem Foto sagte. Dieser andere Junge hatte genau in dem Moment, in dem der Fotograf auf den Auslöser gedrückt hatte, den Kopf bewegt, so dass sein Gesicht unscharf war.
»Was meint ihr?«, fragte ich Tracy und Christine.
»Vielleicht«, antwortete Christine. »Aber sicher bin ich mir nicht.«
»Die Haare sind um einiges heller, aber das könnte am Alter liegen.« Tracy beugte sich noch näher an das Foto heran. »Die Nase ist auch nicht genau zu erkennen.«
Wir knöpften uns den Umschlag vor. Er war an das Postfach eines gewissen Tom Philben in River Bend adressiert. Das konnte natürlich ein Tarnname sein. Wir mussten herausfinden, wem das Postfach gehörte – aber dafür war Jim zuständig.
»Können wir das Foto und den Umschlag behalten? Nur vorübergehend. Wir bringen beides wieder zurück. Es ist wirklich wichtig, Mrs Watson.«
Sie zögerte erst und nickte dann. Wir bedankten uns überschwänglich und verabschiedeten uns, um zu unserem Mietwagen zurückzugehen. Ich warf einen letzten Blick auf diese gebrochene Frau, die ihr Geheimnis endlich losgeworden war und nun allein in ihrem winzigen Büro saß. Sie sah klein und hilflos aus, wie sie da an der holzgetäfelten Wand unter dem Kruzifix lehnte.
Nachdem wir ins Auto gestiegen waren, saßen wir einige Minuten schweigend auf dem Parkplatz.
»Sie lügt«, sagte Tracy schließlich.
»Was meinst du?«, fragte Christine.
»Tracy hat recht«, schaltete ich mich ein. »Sie hat getan, was Noah gesagt hat, und ist anschaffen gegangen. In Wirklichkeit hatte sie keine Ahnung, von wem das Baby war.«
»Warum sagst du so was? Ist es nicht schlimm genug, was sie uns erzählt hat?« Christine wirkte aufrichtig schockiert.
»Ja, aber es muss einen Grund dafür geben, dass sie all die Jahre den Mund gehalten hat. Und das, obwohl sie offenbar ahnte, dass die Mädchen in den Bussen nicht nur zu Gottesdiensten unter freiem Himmel unterwegs waren. Sie wusste Bescheid. Warum sonst hätte sie die Sachen in einem Safe aufbewahren sollen? Sie wusste Bescheid und hat nichts unternommen. Und diese Schuld hat sie die ganze Zeit mit sich herumgeschleppt. Aus einem einzigen Grund: Weil er wusste, dass sie als Nutte gearbeitet und das Baby eines Freiers abgetrieben hat. Er muss irgendeinen Beweis gegen sie in der Hand gehabt haben.«
Tracy nickte. »Ich bin mir sicher, dass es genau so gewesen ist. Aber jetzt lass uns hier abhauen. Das ist alles längst nicht mehr wichtig.«
»O doch«, widersprach ich leise. »Was, wenn sie schon damals etwas gesagt hätte? Vielleicht hätte sie damit verhindert, was uns passiert ist. Was, wenn sie schon vor fünfzehn Jahren eine kriminelle Verbindung zwischen Jack und Noah aufgedeckt hätte? Dann wären die beiden im Gefängnis gelandet, bevor Jack uns entführen konnte.«
»Jetzt mach aber mal einen Punkt, Sarah«, unterbrach mich Christine. »Das ist unfair. Du kannst nicht die ganze Schuld auf sie abwälzen. Jack hat uns das angetan, er allein ist dafür verantwortlich. Also ist es seine Schuld. Nicht ihre.« Sie lehnte sich in ihrem Sitz zurück und starrte nachdenklich zum Autodach hinauf. »Sonst könnte man die Schuld ja noch viel weiter verfolgen. Was ist mit Jacks Mutter? Der Frau, die ihn adoptiert hat? Vermutlich hatte auch sie bereits Hinweise darauf, dass ihr Adoptivsohn nicht ganz normal ist. Ich wette, er war eins dieser Kinder, die kleine Tiere anzünden oder ihnen die Beine rausreißen. Aber auch sie ist nicht für seine Taten verantwortlich.«
»Das ist etwas ganz anderes. Helen Watson wusste genau, dass jemand durch Noah zu Schaden kam. Ich sage ja
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