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Danach

Danach

Titel: Danach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Koethi Zan
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Jeden einzelnen Tag habe ich für ihn gebetet. Weil ich gehofft habe, dass er seine schlechten Gefühle irgendwann loswird.«
    »Welche schlechten Gefühle?«, fragte Christine sanft.
    Mrs Watson rang immer noch um Fassung. Sie betupfte sich die Augen und seufzte.
    »Er war … na ja, jeder hat sein Kreuz im Leben zu tragen und begegnet Versuchungen, denen er widerstehen muss. Noah trug eine große Wut in sich. Sein Vater war ein wunderbarer Mensch, er war Pastor der Kirche, die ich damals besucht habe. So haben wir uns kennengelernt, Noah und ich. Je besser ich ihn kannte, desto deutlicher wurde mir bewusst, wie sehr er seinen Vater hasste. Ich konnte das nicht verstehen. Vielleicht lag es daran, dass sein Vater seinen großen Einfluss auf die Gemeinde nicht ausnutzte, um sich zu bereichern oder persönliche Vorteile in Anspruch zu nehmen. Noah hatte da ganz andere Vorstellungen. Um ehrlich zu sein, weiß ich bis heute nicht, worauf er es damals abgesehen hatte. Ich habe seine Wut und seine Unzufriedenheit schon früh erkannt, aber ich wollte nicht wahrhaben, dass der Junge, den ich liebte, so fühlte und dachte. Wir waren beide noch so jung. Außerdem war er anfangs ein echter Charmeur, ich bin regelrecht dahingeschmolzen. Wir sind also zusammen durchgebrannt und schließlich in Tollen gelandet. Ich kannte keine Menschenseele dort, und er hat mich zu Hause eingesperrt und mich vollkommen isoliert. Das … das war eine schwere Zeit.« Ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen. Sie schien zum ersten Mal über die damaligen Ereignisse zu sprechen, die nun mit aller Macht ans Licht drängten, nachdem sie sie all die Jahre tief in ihrem Inneren verschlossen hatte.
    »Hat er Ihnen wehgetan, Mrs Watson? Warum haben Sie ihn damals verlassen?«, fragte Tracy leise.
    »Ich …« Helen Watson bedeckte wieder das Gesicht mit den Händen und saß unbeweglich da, während wir geduldig abwarteten. Als sie die Hände wieder herunternahm, hatte sie sich zurück in die strenge Pastorenfrau verwandelt, die ich beim letzten Mal erlebt hatte. »Darüber möchte ich wirklich nicht sprechen.« Sie wischte sich eine Träne weg, die ihr beim Abtupfen entgangen war.
    Ich stand auf und ging zum Fenster, um auf den malerischen Vorplatz hinauszublicken.
    »Mrs Watson«, begann ich, ohne mich zu ihr umzudrehen. »Diese Mädchen mit den weißen Gewändern, die er im Gemeindebus herumgefahren hat … die waren nicht freiwillig hier. Es waren Sklavinnen. Einige hat er entführt, andere wurden von ihren Freunden oder Familien verkauft oder sind ihm sonst irgendwie in die Falle gegangen. Aber sie alle waren Sklavinnen, die gegen ihren Willen unsägliche Dinge tun mussten. Prostitution wäre schon schlimm genug gewesen, aber was er tat, ging weit darüber hinaus. Diese Mädchen wurden von seinen Kunden zum Foltern bestellt. Kann es ein schlimmeres Schicksal geben als das dieser Mädchen? Können Sie uns wirklich nicht helfen zu verstehen, was ihn dazu gebracht hat?« Ich drehte mich zu ihr um. Diesmal war ich es, die Tränen in den Augen hatte.
    Sie sah uns zögernd an, eine nach der anderen. Meine Worte hatten sie sichtlich aufgewühlt, aber sie schien unsicher zu sein, ob sie uns vertrauen konnte.
    »Warum haben Sie ihn verlassen?«, wiederholte ich Tracys Frage mit Nachdruck.
    Mrs Watson saß schweigend da, während ihr die widersprüchlichsten Gefühle übers Gesicht huschten. Sie weinte zwar nicht mehr, aber mir fiel auf, dass sich ihre Atmung verändert hatte. Ich kannte diesen immer schneller werdenden Rhythmus. Sie stand kurz vor einem Zusammenbruch.
    »Ich habe ihn verlassen, weil …« Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern. »Weil er mir gesagt hat, dass ich …«
    »Dass Sie was?«, fragte Christine leise.
    »Er wollte, dass ich …« Sie schloss die Augen. »Dass ich mich verkaufe.«
    Sie öffnete die Augen und sah uns nacheinander an. Als sie in unseren Gesichtern nur Mitgefühl las, sprudelten die Worte regelrecht aus ihr hervor: »Wir waren pleite, und da hat er versucht, eine Kirche zu gründen, und mit seinem letzten Ersparten einen kleinen, heruntergekommenen Saal gemietet. Aber als die Mitglieder ausblieben, hat er … mich gebeten, etwas für ihn zu tun. Für uns beide. Ich habe mich geweigert, und da hat er mich geschlagen und im Schlafzimmer eingeschlossen. Am Abend ist er weggegangen. Ich habe eine Haarnadel in meinem Schmuckkästchen gefunden und damit das Türschloss bearbeitet. Es hat Stunden gedauert, bis ich es endlich

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