Danach
kratzen. »Alles klar, ist notiert. Lassen Sie mich das bitte machen, das ist mein Job. Sie drei haben schon genug durchgemacht …« Er brach verlegen ab. Vielleicht war ihm aufgegangen, dass das die Untertreibung des Jahrhunderts war.
In diesem Moment scherte das Auto heftig zur Seite aus, weil Tracy einem entgegenkommenden Fahrer auswich, der sein riskantes Überholmanöver nicht rechtzeitig zu Ende gebracht hatte. Sie schlug mit der Faust auf die Hupe und fluchte.
»Sarah, wo sind Sie?«, fragte Jim beunruhigt. »Sind Sie etwa nicht im Hotel?«
Ich formte mit den Lippen das Wort Scheiße. Jim durfte auf keinen Fall erfahren, was wir vorhatten. Wir mussten die Antworten auf unsere Fragen selbst finden, mussten das Puzzle selbst zusammensetzen. Nachdem wir bereits so weit gekommen waren, hatte keine von uns Lust, wieder zum wehrlosen Opfer erklärt zu werden und geduldig abzuwarten, bis irgendein Untergebener von Jim sich herabließ, das jeweilige Puzzleteil für uns aufzutreiben. Aber wenn wir uns offen weigerten, im Hotel zu bleiben, nahm Jim uns vielleicht in Schutzgewahrsam.
Ich wechselte unauffällig das Thema.
»Jim, was wissen Sie über Jacks Kindheit?«
»Sarah …«
»Jim, bitte … ich möchte es gerne wissen …«
»Ehrlich gesagt wissen wir so gut wie nichts. Aber lassen Sie uns später sprechen, Sarah.«
»Bitte, Jim. Sagen Sie mir, was Sie wissen.«
Jim seufzte wie er es immer tat, wenn er im Begriff war nachzugeben.
»Er ist eine Zeitlang von Pflegefamilie zu Pflegefamilie getingelt, bis die Derbers ihn schließlich mit vierzehn adoptierten. Was davor war … keine Ahnung. Das Dokumentationssystem des Jugendamtes war damals noch nicht so toll. Seine Akte ist nicht mehr auffindbar, und der mit ihm betraute Sozialarbeiter ist vor fünfzehn Jahren bei einem Autounfall gestorben. Sonst weiß niemand etwas über seine Vergangenheit.«
»Wir stückeln uns gerade Teile davon zusammen. Lassen Sie uns morgen weiterreden.«
»Sarah, fahren Sie bitte zurück ins Hotel. Jetzt sofort. Wir verstärken die Sicherheitsvorkehrungen. Übergeben Sie die Briefe an Officer Grunnell. Wir kümmern uns darum und finden heraus, wie das passieren konnte. Bei uns ist gerade ein telefonischer Hinweis auf Noahs möglichen Aufenthaltsort eingegangen, daher werde ich vermutlich die ganze Nacht unterwegs sein. Aber ich komme morgen früh im Hotel vorbei und sehe nach Ihnen.«
Nachdem ich mich verabschiedet und das Gespräch beendet hatte, erzählte ich den anderen beiden, was Jim und seine Kollegen in Noahs Gemeinderäumen gefunden hatten. Fassungslos starrten wir alle nach vorne auf die Straße und versuchten, die grausamen Neuigkeiten zu verarbeiten und das ganze Ausmaß all dessen zu begreifen.
Schließlich wagte ich es, den anderen einen zaghaften Blick zuzuwerfen. Christines Hände lagen jetzt still da, aber ihre Augen huschten von links nach rechts und ihr Gesicht war gerötet. Noch vor wenigen Stunden hatte sie vollkommen ausgeglichen gewirkt, unsere Retterin, die sorgsam konstruierte Upper-East-Side-Mutter, die jetzt wieder in ihre Einzelteile zerfiel und mich zunehmend an die Christine von damals erinnerte.
Hatte die alte Christine die ganze Zeit hinter der Fassade gelauert? War sie die Realität und alles andere nur Fassade, eine Fassade, die von Christines unbedingtem Willen zur Verdrängung zusammengehalten wurde?
Ich schielte zu Tracy hinüber, um ihre Aufmerksamkeit irgendwie unauffällig auf Christine zu lenken, aber sie konzentrierte sich voll aufs Fahren und behielt gleichzeitig die rosa Linie des Navigationsgeräts im Auge, die uns den Weg zum Uni-Campus wies. Dabei hielt sie das Lenkrad so fest umklammert, dass ihre Fingerknöchel weiß wurden.
Wir wussten es alle drei: Jack wollte uns mit diesen Briefen etwas Bestimmtes mitteilen. Zum einen natürlich, dass er immer noch Macht über uns hatte, uns immer noch überall erreichen konnte, egal wo wir uns versteckten. Und zum anderen ließ er uns wissen, dass in seinem Haus ein Hinweis auf uns wartete. Ein Hinweis, der Teil seines kranken Spiels war. Vielleicht handelte es sich dabei tatsächlich um eine nützliche Information, aber welchen Preis würden wir dafür zahlen müssen? Wir wussten alle drei, dass es letztlich auf diese Frage hinauslief, auch wenn keine von uns sie laut auszusprechen wagte.
Vorher schöpften wir lieber alle anderen Möglichkeiten aus.
Auf dem Unigelände angekommen, fuhr Tracy mindestens zehn Stundenkilometer zu schnell
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