Danach
der einzigartigen Qualität ihrer Verwundbarkeit hatte er sie zu seinem Liebling auserkoren und sie für die Kiste ausgewählt.
Hier saß ich nun also und hielt den Brief in Händen. Berührte, was er berührt hatte. Las, was er geschrieben hatte. Ich breitete das Blatt Papier vor mir auf dem Tisch aus und wappnete mich, der Macht seiner Worte zu widerstehen.
Liebste Sarah,
ich wünschte, du könntest das Geheimnis genauso gut verstehen wie ich. Wenn du doch nur im Zimmer der Bücher diese wunderschöne Textpassage gelesen hättest, im Dunkeln ins geistige Auge gekritzelt.
An den Ufern des Sees, auf dem flachen, niedrigen Land am Ozean, lauert seit langem die Gefahr und wartet stumm, bevor sie zuschlägt. Wenn du doch nur so mutig sein könntest, dein Kostüm abzustreifen und mit mir ins heilige Meer zu gehen, wo es keine Schwäche gibt, kein Leid und kein Bedauern.
Sylvia kann dir helfen. Sie kann dir den Weg weisen. Sie hat in die Tiefen meines Herzens geblickt, und ich habe ihr die Landschaften und Aussichten meiner Vergangenheit gezeigt. Sie kennt sie alle und hat mir vergeben. Sie hat mir die Augen geöffnet und mich blind gemacht für das Böse. Sie ist ein Engel der Barmherzigkeit, dessen Kerze im Dunkeln brennt und mein Herz nicht mit Scham, sondern mit Erlösung füllt.
Bald – das spüre ich – werden wir wieder vereint sein. Ich werde dich holen, und gemeinsam werden wir durch das Tal des Todes gehen, unversehrt.
Wie die Apostel müssen wir lernen. Wir müssen zu Füßen des Herrn sitzen und lernen. Lausche einfach seinen Lehren, Sarah. Lies die Lehren, studiere sie.
Amor fati,
Jack
Ich las den Brief fünfmal hintereinander langsam durch und bemühte mich, schlau aus ihm zu werden. Klar war nur, dass er mich holen kommen würde, wenn sie ihn freiließen.
Aber in den Zeilen war auch etwas Neues zu spüren, eine Dringlichkeit, die ich in den anderen Briefen nicht bemerkt hatte. Dieses kranke Arschloch versuchte mir etwas mitzuteilen. Es sah ihm ähnlich, mich auf eine sinnlose, vergebliche Suche zu schicken, aber ich hatte nun mal keinen anderen Anhaltspunkt. Irgendetwas versteckte sich in diesem Brief. Ich musste nachdenken. Nur Nachdenken konnte mich retten.
4
Der erste Tag im Keller war vermutlich der schlimmste, auch wenn er nicht ein einziges Mal nach unten kam. Der erste Tag war meine Einführung in ein Leben der völligen Orientierungslosigkeit.
Der Keller sah genauso aus, wie ich mir ein Verlies vorgestellt hätte: kahl, düster, abweisend. Ich lag auf einer schmalen Matratze, die mit einem weißen, sauber wirkenden Laken bedeckt war. Tatsächlich war es sauberer als die Laken in unserem Wohnheimzimmer. Der Raum war groß, und die steile Holztreppe, die entlang der rechten Wand verlief, führte zu einer Stahltür. Schon bald sollte ich das Knarren der Stufen in- und auswendig kennen.
Unser Verlies hatte schmuddelige graue Wände, einen dunklen Steinboden und eine einzelne trübe Glühbirne, die über uns an einem Kabel baumelte. Die Kiste stand links von der Treppe.
Tracy, deren Namen ich später an diesem Tag erfuhr, lag neben mir und war an dieselbe Wand gegenüber der Kellertreppe gekettet. Sie wirkte zerbrechlich, als ich sie das erste Mal sah, zusammengekauert auf dem Boden. Doch das täuschte. Ihr herausgewachsener Pony war an den Spitzen schwarz – die Überreste des letzten Haarefärbens – und verdeckte ihr Gesicht ein wenig, das sie beim Schlafen angestrengt zusammenkniff.
Zwischen Tracy und der Wand zur Rechten zweigte ein enger Gang ab. Aus meiner Position konnte ich nicht sehen, wohin er führte, aber ich kam schnell dahinter, dass an seinem Ende ein funktionstüchtiges, aber spartanisches Bad mit Toilette und Waschbecken eingebaut worden war. Genauso schnell lernte ich, dass wir uns mit dieser minimalen Ausstattung makellos sauber zu halten hatten.
An der rechten Wand war etwa eineinhalb Meter von der Treppe entfernt Christine festgemacht. Sie lag auf der Seite, ob sie schlief oder nur döste, konnte ich nicht sagen. Ihr Körper war seltsam gespreizt, verrenkt, und ihr verfilztes blondes Haar lag zu einem Zopf gedreht über ihrer Schulter. Ihre feinen Gesichtszüge und die Art, wie sie dalag, ließen sie wie eine Porzellanpuppe aussehen, mit der jemand unachtsam gespielt und sie dann in die Ecke geworfen hatte.
Jede von uns war mit einer langen schweren Kette an der Wand befestigt – ob an Hand- oder Fußgelenk, das variierte –, und die etwa drei mal fünf
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