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Danach

Danach

Titel: Danach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Koethi Zan
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teilte sie uns mit, dass die Strecke »neu berechnet« werde, und ich erkannte an unseren Gesichtern, dass das auch für uns galt. Auch wir mussten unser Leben neu berechnen und uns auf die vor uns liegende Herausforderung vorbereiten. Wir näherten uns dem Ort, von dem wir einst geglaubt hatten, dass wir dort sterben würden. Dem Ort, an dem wir uns gegenseitig den Tod gewünscht hatten. Noch wussten wir nicht, wie es sich anfühlen würde, wieder dort zu sein, aber wir wussten, dass es kein schönes Gefühl sein würde.
    Wir fanden die Auffahrt, die genauso aussah wie auf den Zeitungsfotos. Tracy blieb mitten auf der Straße stehen, mit eingeschaltetem Blinker. Als leichter Regen einsetzte, betätigte sie kommentarlos die Scheibenwischer. Schweigend saßen wir im prasselnden Regen, bis das Navigationsgerät uns daran erinnerte, dass sich das Ziel der Fahrt zu unserer Rechten befand.
    »Seid ihr bereit?«, fragte Tracy schließlich.
    »Nein«, ertönte Christines Stimme vom Rücksitz. »Aber lass es uns trotzdem endlich hinter uns bringen.«
    Ich drehte mich überrascht zu ihr um. Ihre Hände zitterten nicht mehr, und auf ihrem Gesicht lag eine neue Entschlossenheit. Ich nickte Tracy zu, und sie lenkte den Wagen in die Auffahrt, die sich durch dichten Wald einen Hang hinaufschlängelte. Während ich den Blick durch die Bäume schweifen ließ, erinnerte ich mich an die Stunden, die ich in diesem Wald verbracht hatte. Bilder von meiner Flucht tauchten vor meinem inneren Auge auf: wie ich nackt und halbtot vor Dehydrierung umhergeirrt war, ein Tier in der Wildnis, orientierungslos und einsam. Einsamer, als ich je zuvor in meinem Leben gewesen war. Auch damals hatte es geregnet, und ich hatte den Kopf zum Himmel gehoben und den Mund geöffnet, um den Regen auf der Zunge zu spüren.
    Als wir uns dem Haus näherten, fielen mir die zerfetzten Überreste des polizeilichen Absperrbands auf, die hier und da auf dem Boden lagen oder von den Ästen hingen. Man nahm sie nur wahr, wenn man wusste, worum es sich dabei handelte. Schließlich bogen wir um die letzte Kurve und sahen das Haus vor uns liegen: eine große Berghütte mit Spitzdach, passend zum Wald dunkelgrün gestrichen, und rechts daneben eine rotgestrichene Scheune. Die Scheune, dachte ich. Mir lief ein Schauer über den Rücken, als wir davor zum Stehen kamen.
    Tracy warf mir einen Blick zu, den ich nicht deuten konnte. Vergewisserte sie sich, dass ich der Sache gewachsen war, oder war sie in ihre eigenen schmerzhaften Erinnerungen versunken?
    Ich drehte mich zu Adele um, die sich angespannt umsah. Es konnte durchaus sein, dass sie schon einmal hier gewesen war oder dieses Haus vielleicht sogar regelmäßig aufgesucht hatte, aber wenigstens zeigte sie den angemessenen Respekt vor den schrecklichen Dingen, die sich hier ereignet hatten.
    Als Nächstes wanderte mein Blick zu Christine. Ihr Gesicht war ruhig und ernst, ihre Hände lagen reglos in ihrem Schoß.
    Wir stiegen fast gleichzeitig aus dem Auto und schlossen leise die Türen hinter uns. Wie angewurzelt standen wir da und betrachteten mit stiller Scheu das Haus, dessen Anblick uns völlig überwältigte. Es wirkte lebendig und unheilvoll und schien uns zu beobachten, so als wäre es ein Teil von Jack, der hier zurückgeblieben war.
    Schließlich holte ich tief Luft und ging auf die Tür zu, wobei ich darauf achtete, nicht zur Scheune hinüberzublicken. Mir entging die Ironie der Situation nicht: Wir versuchten doch tatsächlich, in dieses Haus einzubrechen, obwohl wir uns jahrelang nichts sehnlicher gewünscht hatten, als es verlassen zu können. Und dennoch waren wir jetzt hier. Und standen Todesängste aus.
    Ich trat nahe genug heran, um durch das Fenster neben der Tür zu spähen. Im Inneren sah es aufgeräumt und tadellos sauber aus. Für einen flüchtigen Moment überlegte ich, wem wohl die undankbare Aufgabe zugefallen war, das Haus wiederherzurichten, nachdem die Polizei es auf den Kopf gestellt hatte.
    Tracy übernahm jetzt die Führung und wollte nach dem Türknauf greifen, aber ich hielt sie im letzten Moment zurück.
    »Meinst du nicht, wir sollten lieber keine Fingerabdrücke hinterlassen?«
    »Na ja, uns bleibt wohl nichts anderes übrig ohne Handschuhe, oder?«
    Sie zog trotzdem den Saum ihres T-Shirts nach vorne und umfasste damit den Knauf. Die Tür war unverschlossen, und Tracy machte sie auf.
    »Da haben wir’s. Gleich unser erster Versuch, dem Gesetz zuwiderzuhandeln und Hausfriedensbruch zu

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