Danach
Vielleicht sollten Sie lieber mit etwas Einfacherem anfangen. Einkaufen im Supermarkt zum Beispiel.«
Als ich nicht antwortete, hakte er weiter nach: »Darf ich fragen, wohin die Reise geht?«
Ich überging die Frage.
»Ich will in Ruhe nachdenken, und dazu muss ich einfach mal raus aus allem. Ich nehme mir eine kleine Auszeit von der Arbeit, was kein Problem ist, weil ich zufällig noch eine Menge Urlaubstage übrig habe.«
»Das überrascht mich nicht. Das mit den Urlaubstagen, meine ich. Haben Sie mit Dr. Simmons darüber gesprochen?«
»Äh nein, noch nicht. Ich rufe sie gleich als Nächstes an.«
Ich holte tief Luft und beendete das Gespräch. Schließlich war ich keine Gefangene, und die beiden waren auch nicht meine Gefängniswärter. Natürlich konnte ich jederzeit verreisen, und das mit den Urlaubstagen stimmte auch.
Was nicht stimmte, war, dass ich einen simplen Erholungsurlaub plante. Der Brief hatte mich auf eine Idee gebracht, weil er zwar keine konkreten Hinweise geliefert, aber eine dunkle Erinnerung in mir wachgerufen hatte. Es war jetzt drei Tage her, dass ich ihn gelesen hatte, und ich war immer noch nicht darauf gekommen, um was es sich dabei handelte. Mangels Erleuchtung hatte ich daher beschlossen, zu Plan B überzugehen und auf Dr. Jack Derber zu hören. Seine Frau Sylvia sollte mir »den Weg weisen«. Vielleicht bezweckte er damit etwas Bestimmtes. Aber vielleicht ergab sich daraus auch etwas anderes, als Jack es sich vorstellte. Sylvia, zeig mir, wo ich hin muss , flüsterte ich entschlossen, während ich das Telefon zurück auf die Station legte. Zeig es mir.
Es dauerte ungefähr drei Zehntelsekunden, bis Google Sylvias vollen Namen und ihren Wohnort ausgespuckt hatte. Das ist der Vorteil daran, wenn man einen berühmten Erzfeind hat: Er kann nicht einfach heiraten, ohne dass die ganze Welt jede Einzelheit erfährt. Sylvia Dunham, Keeler, Oregon . Sie wohnte nicht weit vom Gefängnis entfernt, was praktisch für sie, aber eine unglückliche Fügung für mich war, weil ich davon überzeugt war, seine Anwesenheit genauso deutlich durch Stahlbeton und Stacheldraht spüren zu können wie damals durch die Kellertür.
Ich suchte bei Google Earth nach der Strafanstalt. Wie benommen starrte ich auf den winzigen Gefängnishof – ein hellbrauner Fleck auf dem Bildschirm –, auf dem er bestimmt jeden Tag seine Kreise zog. Auch der Wachturm war verschwommen zu erkennen und sogar die feine Linie des Stacheldrahtzauns, der die Grenzen der Haftanstalt markierte. Fröstelnd schloss ich die Internetseite. Ich wollte die Grenze meiner psychischen Belastbarkeit nicht zu früh ausreizen.
Seit meiner Flucht war ich kein einziges Mal in Oregon gewesen, ja, ich hatte mir sogar feierlich geschworen, niemals wieder dorthin zurückzukehren. Aber Jacks Brief hatte mir klargemacht, was der Preis für meine Untätigkeit sein konnte. Allein der Gedanke, dass er freigelassen werden könnte, rief in mir Gefühle hervor, die ich seit Jahren zu verdrängen versucht hatte und die mich zwangen, dem ins Auge zu blicken, was ich tun musste, ganz egal, wie schrecklich es war.
Bei Jacks Prozess waren die Staatsanwälte »pragmatisch« gewesen, sie hatten getan, »was sie konnten«. Und zu einem gewissen Maß war ihre Strategie aufgegangen, schließlich landete Jack im Gefängnis. Aber das änderte nichts an der Tatsache, dass nicht geklärt worden war, was er Jennifer angetan hatte. Dass das vielleicht nie aufgeklärt werden würde. Über die Jahre hatte ich versucht, das zu akzeptieren, hatte mir gesagt, dass ich nichts tun konnte. Aber Jacks Brief ließ mich glauben, dass Sylvia der Schlüssel zu allem sein könnte, dass sie etwas über Jennifer wissen könnte. Jetzt rief mich die Pflicht, und zum ersten Mal seit zehn Jahren hatte ich das Gefühl, stark genug zu sein, dem Ruf zu folgen. Vielleicht schlugen all die vielen Therapiestunden ja doch endlich an. Oder mir war instinktiv bewusst, dass die Mission, zu der ich aufbrach, meine Therapie war.
Bevor mein Mut mich wieder verlassen konnte, öffnete ich eine andere Webseite und buchte meinen Flug, das beste Hotel in der Gegend und, nach kurzem Zögern, einen Mietwagen. Ich hasste Autofahren, aber es bestand nicht die geringste Chance, dass ich je wieder in ein Taxi stieg. Sämtliche Buchungen führte ich unter Caroline Morrow durch, schließlich war das jetzt mein »richtiger« Name. Meine praktische Ader hatte die Führung übernommen. Ich begann wieder, Listen
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