Danach
hervor und warf einen Blick auf den Poststempel. Sie war schon vor drei Wochen abgeschickt worden. Seltsam, dass Sylvia ihre Post nicht vom örtlichen Postamt aufbewahren ließ, wenn sie so lange verreist war. Aber vielleicht war ich ja die Einzige, die derart akribisch vorausplante.
Nachdem ich den ganzen Stapel noch einmal durchgegangen war, um sicherzugehen, dass kein Brief aus dem Gefängnis dabei war, stopfte ich ihn zurück in den Briefkasten und ging zu meinem Auto. Ich blieb ein paar Minuten im Mietwagen sitzen und überlegte, was ich als Nächstes tun sollte. Da ich nun schon einmal in Keeler war, wollte ich alle Möglichkeiten ausschöpfen und beschloss daher, bei dem Coffee Shop zu halten, an dem ich auf dem Hinweg vorbeigekommen war. Keeler war ein kleiner Ort. Vielleicht kannte man Sylvia dort.
Der Coffee Shop war ein uriges silberverkleidetes Gebäude, das aussah wie ein Zugwaggon und direkt an der kleinen Grünfläche des Städtchens lag. Im Inneren war es hell und einladend. Statt für eine der leeren Sitznischen entschied ich mich für einen Platz an der Bar und bestellte Kaffee, wobei ich mich bemühte, freundlich auszusehen. Sogar zu einem Lächeln zwang ich mich.
Dann erhaschte ich einen Blick auf mich im Spiegel hinter der Theke. Meine Augen waren vom Flug ziemlich gerötet, und mein Haar war zerzaust. Wie eine Geistesgestörte, dachte ich und hörte wieder auf zu lächeln. Als die Kellnerin zu mir kam, um meine Tasse aufzufüllen, machte ich eine ruckartige Bewegung auf sie zu. Die Unbeholfenheit in Person. Ich war wohl ein bisschen aus der Übung, was zwischenmenschliche Kontakte anging.
»Kennen Sie zufällig eine Sylvia Dunham?«, fragte ich in meinem beiläufigsten Tonfall. Selbst ich hörte, dass er überhaupt nicht beiläufig klang. Insgeheim verfluchte ich meine Inkompetenz, aber die Kellnerin blickte nicht einmal von ihrer Kaffeekanne auf.
»Klar kenne ich sie.« Ihre reservierte Antwort machte mir bewusst, dass vermutlich viele Sensationstouristen in den Coffee Shop kamen und nach Sylvia Dunham fragten. Sie musste in der Gegend eine echte Berühmtheit sein. Mir war klar, dass es Menschen gab, die noch durchgeknallter waren als ich. Voyeure, die im Urlaub nichts Besseres zu tun hatten, als die Schauplätze von Verbrechen abzuklappern. Ich musste mir schnell etwas einfallen lassen, um mich von dieser Sorte Verrückter abzuheben. Andererseits hatte ich eigentlich nur geplant, Sylvia persönlich zur Rede zu stellen. Ich war nicht darauf vorbereitet, auf diese Weise herumzuschnüffeln, und hatte ganz sicher nicht vor, nach all den Jahren in die Welt hinauszuposaunen, wer ich wirklich war.
»Ich bin … ich schreibe ein Buch«, stammelte ich.
»Ah ja.« Sie blickte immer noch nicht auf, sondern wischte geschäftig einen winzigen Tropfen Kaffee auf, den ich beim Trinken der ersten Tasse verschüttet hatte. Sofort erkannte ich meinen Fehler: Sehr wahrscheinlich war ich auch nicht die Einzige, die ein Buch über den Fall schrieb. Wenn ich auf meiner Mission Erfolg haben wollte, musste ich mir beim nächsten Mal wohl etwas Besseres ausdenken.
Endlich hielt sie mit dem Lappen in der Hand inne und sah mich an.
»Ich sage Ihnen eins: Manche im Ort freuen sich über das Zusatzgeschäft durch die Touristen, die hier wegen dieser Frau herumschnüffeln, andere nicht. Ich gehöre zur zweiten Sorte. Und ich will auch nicht, dass dieser Typ hierherzieht, wenn er aus dem Knast kommt. Damit will ich nichts zu tun haben. Mein Mann gehört zur ersten Sorte. Hat sonst nicht viel, über das er sich das Maul zerreißen könnte. Der würde Ihnen sicher ein Ohr über diese Frau abkauen.« Sie seufzte. »Er kommt um fünf und holt mich ab, falls Sie ihn fragen wollen.«
Ich stellte eine schnelle Rechnung auf. Wenn ich bis fünf blieb und nicht mehr als eine Viertelstunde mit ihm plauderte, konnte ich es immer noch zurück ins Hotel schaffen, bevor es vollkommen dunkel war. Allerdings war es jetzt erst Viertel nach vier, ich musste mich also noch ein Weilchen beschäftigen. Ich bedankte mich bei der Kellnerin, bezahlte und kündigte an, dass ich später wiederkommen würde.
Um mir die Zeit zu vertreiben, bummelte ich über den hübschen kleinen Dorfplatz und bewunderte den frisch gemähten grünen Rasen und die weiß gestrichenen Bänke, die am Rand aufgestellt waren. Vor der strahlend weißen Kirche an der Straßenecke blieb ich stehen. Vielleicht war das die Kirche. Ihre Kirche. Ich ging hinein und fand
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