Danach
Flughafensanitätern herumzuärgern, schluckte ich sie mühsam wieder hinunter.
In Wahrheit schlief ich keine Sekunde. Mein Herz klopfte schneller als je zuvor, nicht nur weil die Eindrücke der Reise mein Gehirn fluteten, das seit fünf Jahren nicht mehr so viele visuelle und akustische Informationen auf einmal hatte verarbeiten müssen, sondern auch weil mein Plan langsam aber sicher Gestalt annahm.
Mit Sylvia zu sprechen stellte eine ganz schöne Herausforderung für mich dar, und ich fragte mich mehr als einmal, ob ich verrückt war, dass ich mich ohne Jim mit ihr traf. Aber das FBI hatte Sylvia bereits befragt und es nicht geschafft, zu ihr durchzudringen. Jack hatte überdeutlich betont, dass sie seine Vertraute war und alle Einzelheiten seiner Vergangenheit kannte. Ich hoffte, dass ein Treffen mit einem von Jacks Opfern die Erkenntnis in ihr reifen lassen würde, was für ein Monster sie da geheiratet hatte. Und vielleicht konnte ich sie ja überreden, etwas preiszugeben, von dem sie noch niemandem etwas erzählt hatte.
Mein Hotel befand sich direkt in Portland, obwohl Keeler, wo Sylvia wohnte, rund fünfundsechzig Kilometer entfernt war. Das war ein wenig umständlich, aber in Keeler gab es nur Motels, und mit einer Zimmertür, die direkt zur Außenwelt führte, war meine Mission von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Ich war noch nie gerne Auto gefahren, selbst früher, als ich es regelmäßig getan hatte. Umso erleichterter stellte ich fest, dass ich es nicht ganz verlernt hatte, auch wenn mir jede Sekunde am Steuer des Mietwagens panische Angst einjagte.
Das Einchecken im Hotel verlief problemlos, wenn auch nicht besonders elegant. Da ich Blickkontakt nicht mehr gewöhnt war, starrte ich fast die ganze Zeit auf meine Kreditkarte, meine Hände oder meinen Koffer. Krächzend würgte ich die Worte »Caroline Morrow« hervor. Wie ich diesen Namen hasste! Zehn Jahre, und er klang immer noch nicht glaubhaft in meinen Ohren. Ich fand es mehr als unfair, wie gründlich mir Jack meine Identität geraubt hatte.
Sobald ich auf meinem Zimmer war, verriegelte ich beide Türschlösser, die, wie mir sofort auffiel, von einem billigen Hersteller stammten. Dann schimpfte ich laut mit mir selbst, weil ich ein solcher Freak war. Trotzdem bestand meine erste Handlung darin, die Infomappe zu studieren und mir zu merken, wo sich die Notausgänge befanden. Nachdem ich mir den Hotelplan auf der Rückseite der Tür angesehen hatte, hob ich den Telefonhörer ab, um zu hören, ob das Freizeichen erklang. Ich holte mein Handy aus der Tasche und lud es auf, obwohl der Akku noch fast voll war. Man konnte nie vorsichtig genug sein.
Ich hatte viel darüber nachgegrübelt, was ich zu Sylvia sagen wollte, und ging das geplante Gespräch noch einmal in Gedanken durch, während ich sorgfältig meine Kleider auspackte und aufs Bett legte, um zu überprüfen, ob ich auch nichts vergessen hatte. Natürlich nicht. Nach einer schnellen Dusche brach ich zu meiner Mission auf. Den ersten Versuch wollte ich möglichst sofort starten, damit ich vor Einbruch der Dunkelheit wieder im Hotel war.
Problemlos fand ich Sylvias Haus, einen kleinen, unscheinbaren Ziegelbau im Ranch-Stil, der in einer ruhigen Wohngegend lag und auf den ersten Blick einen verlassenen Eindruck machte. Die schweren Vorhänge vor den Fenstern waren zugezogen.
Ich hielt in der Auffahrt, stieg aus und sah mich um. Die Garagentüren waren fest verschlossen. Ich spähte durchs Fenster und sah, dass die Garage tadellos aufgeräumt war. Auch hier stand kein Auto. An einer Wand hing eine umfangreiche Werkzeugsammlung an gleichmäßig verteilten Nägeln. Jeder Hammer und jeder Schraubenzieher war an der Wand mit Filzstift umrahmt. Ein Fahrrad, das in der Ecke stand, hatte einen platten Reifen.
War die ganze lange Reise etwa umsonst gewesen?
Ich ging zur Eingangstür und klingelte. Man wusste ja nie. Nach drei Versuchen war ich endgültig überzeugt, dass niemand da war. Als ich am Briefkasten vorbeikam, hielt ich aus den Augenwinkeln nach störenden Nachbarn Ausschau und öffnete ihn dann. Er war bis oben hin voll mit Post. Ich zögerte nur eine Sekunde, bevor ich eine Handvoll Briefe herauszog. Meine Reise hatte kaum angefangen, und schon brach ich das erste Gesetz. Wenigstens konnte ich mich auf diese Weise vergewissern, dass ich an der richtigen Adresse war.
Sylvias Post bestand hauptsächlich aus Rechnungen und Werbeflyern. Von ganz unten zog ich eine Telefonrechnung
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