Danach
aufzubauen. In keiner anderen Stadt wäre das in dieser Form möglich gewesen, aber New Orleans war ein Eldorado für alternative Lebensweisen.
Nach und nach freundete sich Tracy mit der Straßenkünstlerszene an, mit Aussteigern und Straßenmusikanten, die hofften, eines Tages entdeckt zu werden. Sie alle lebten von den Touristenscharen, die sich jeden Tag aufs Neue durch die Straßen schoben. Tracy und Ben wurden die Maskottchen der Gaukler und Bettler, die sie im Gegenzug vor den vielen Gefahren des nächtlichen Straßenlebens beschützten.
Tracy war ein cleveres kleines Mädchen, das sich schnell sämtliche Kunststücke aneignete – Zaubertricks, Jonglieren, Akrobatik. Außerdem war sie eine begabte Geschichtenerzählerin und unterhielt nicht nur die Touristen mit ihrem frühreifen Charme, sondern auch ihre Straßengefährten, die ihr in einer Seitengasse des French Quarter ein kleines Podium bauten. Auf dem stand sie und rezitierte Gedichte oder gab Geschichten zum Besten. Jedes Mal, wenn sie fertig war und ihr Publikum sich auflöste, hörte Tracy unweigerlich eine Frau zu ihrem Mann sagen: Lass uns unsere Freunde anrufen, die müssen sie unbedingt adoptieren! Davon träumte Tracy damals: dass irgendein reicher Tourist vorbeikam, einen Narren an ihr und ihrem Bruder fraß und sie aus ihrer armseligen kleinen Existenz herausholte.
Manchmal blieb sie die ganze Nacht im French Quarter und brachte den kleinen Bruder in einer Seitengasse auf einem Stapel alter Decken unter, wo sie ihn nicht aus den Augen ließ. Sie sah Betrunkene nach Hause schlurfen und Prostituierte, die sie fast alle mit Namen kannte, von ihren Freiern zurückkommen. Erst wenn kurz vor Morgengrauen endlich Ruhe einkehrte, hob sie den verschlafenen kleinen Ben hoch und schleppte ihn in die schmuddelige Wohnung der Mutter zurück, die nie irgendwelche Fragen stellte.
Tracy ging nur sporadisch zur Schule, und irgendwann machten sich die Schulkontrolleure, die genauso überlastet waren wie das Jugendamt, nicht mehr die Mühe, sie in den Unterricht zu schleifen. Aber sie las wie eine Besessene. Ich bin Autodidaktin, pflegte sie zu sagen, und ich habe nie einen Menschen getroffen, auf den das mehr zutraf. In der Bourbon Street gab es ein Buchantiquariat, dessen Inhaber ihr Bücher lieh, solange sie sie schnell wieder zurückbrachte. Sie las alles, von Jane Eyre über Der Fremde bis Über die Entstehung der Arten , um sich die langen Tage auf den Bürgersteigen der Stadt zu vertreiben. Vom Lärm und Gestank um sie herum bekam sie nicht das Geringste mit.
Ben und sie lebten mehr schlecht als recht von den Münzen, die sie im Laufe des Tages erbettelten. Das wenige Essen, das sie sich davon kaufen konnten, besserten sie mit halbgegessenen Beignets auf, die die Touristen wegwarfen, oder sie gingen nach Geschäftsschluss in der Transvestiten-Bar um die Ecke vorbei und staubten die Essensreste ab. Tracy spielte die Starke und tat so, als würde ihr das alles nichts ausmachen. Manchmal gab sie ihrer Mutter sogar etwas von dem erbettelten Geld ab. So war sie wenigstens ruhig und ging ihnen nicht auf die Nerven.
Als Tracy in die Pubertät kam, umgab sie sich mit einer Clique gleichaltriger Straßenkinder, die der Gothic-Szene nahestanden. Sie kleideten sich schwarz, färbten sich die Haare dunkelrot, lila oder schwarz und trugen dazu klobigen Schmuck an schwarzen Lederbändern, dicke Ringe mit blutroten falschen Edelsteinen und versilberte Skelette oder Kruzifixe, die von ihren Piercings baumelten. Tracys Lieblingssymbol war ironischerweise das koptische Kreuz, das ägyptische Symbol für ewiges Leben.
Einige der Jugendlichen fingen an, Heroin zu spritzen, aber Tracy rührte das Zeug nicht an, weil sie sich mit Abscheu an ihre Mutter erinnerte. Sie trank Alkohol, geriet hier und da in Schwierigkeiten, hielt sich aber aus allem raus, was sie ins Gefängnis bringen konnte. Schließlich musste sie ja auf Ben aufpassen.
Inzwischen hatte er den künstlerischen Part übernommen und sich unter Anleitung eines erfahrenen Straßengauklers aus dem French Quarter, der ihn unter seine Fittiche genommen hatte, zum talentierten Akrobaten gemausert. An manchen Tagen verdiente er zehn ganze Dollar. Dann gingen sie in eine Bar und bestellten einen Riesenteller Pommes und zwei kleine Bier. Das waren die guten Tage.
Doch leider gab es in den Bars von New Orleans nichts, was es nicht gab. Heteros, Schwule, Transsexuelle. Stripperinnen, Lederfetischisten, Sadomasos. Und
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