Danach
nirgendwo wurde am Eingang ein Ausweis verlangt. So war es wohl nur logisch, dass Tracy und ihre Clique immer tiefer hineingerieten in die finsteren Winkel der Stadt, in die Viertel, die die Touristenbusse tunlichst mieden. Tracys Lieblingsclub besaß nicht einmal ein Schild, nur eine schwarz gestrichene Tür in einer schwarz gestrichenen Mauer, hinter der Industrial Music hervordröhnte. Nine Inch Nails. My Life with the Thrill Kill Kult. Lords of Acid.
Wenn die Tür in ihren rostigen Angeln aufging, sah man nichts als einen stockfinsteren Raum, aus dem sich Zigarettenrauch in die Nachtluft hinausschlängelte. Die Türsteher mit ihren schlecht verheilenden Narben in Form von Sklavenabzeichen kannten Tracy und traten beiseite, um sie hereinzulassen.
Später gab sie zu, dass es naiv von ihr gewesen sei, nicht zu kapieren, wo das Ganze hinführte. Sie hatte einfach das Gefühl gehabt, Teil eines Geheimnisses zu sein und endlich dazuzugehören. Das konnten ihr die reichen Touristen nicht bieten. Ihr lag plötzlich ein ganzes Reich zu Füßen, und die wütende Musik, die jede Nacht auf sie einprasselte, passte zu der Wut auf ihre Mutter und die ganze Welt. Es war ein mächtiges Reich, das sie und ihre Freunde geschaffen hatten, und Tracy spürte seine Kraft durch ihre Venen strömen, stärker als jede Droge.
Insgesamt verbrachte sie vier Jahre in der Szene. Bei den seltenen Gelegenheiten, in denen Tracy von ihrem Leben erzählte, verspürte ich fast so etwas wie Neid. Sämtliche Freaks und Spinner Amerikas schienen sich damals in New Orleans versammelt zu haben, ihrer Kirche, ihrem Sehnsuchtsort. Dort lebten sie gemeinsam auf der Straße, in halbzerfallenen Wohnheimen, in WGs, die mit bunten Tüchern, billigem Schmuck und schmutzigen, paillettenbesetzten Strumpfbändern vollgehängt waren, eine seltsame Gemeinde, die nur ein Credo kannte: Akzeptanz.
Nichts spielte eine Rolle, weder Alter noch Aussehen, weder Geschlecht noch sexuelle Vorlieben. Alles war ein großer Schmelztiegel der Anomalie, ein Gesamtbild, in dem Sex und Drogen und gelegentliche Gewalt nur kleine Ausschnitte bildeten, aber Ausschnitte, die das Gefühl betäubten, missverstanden und ausgenutzt zu werden, kaputt und verbraucht und dennoch zutiefst menschlich zu sein. Hier, in dieser Untergrundblase, wurde das Urteilsvermögen für eine Stunde, ein Jahr, ein Leben außer Kraft gesetzt, während hin und wieder ein wenig Selbstachtung und sogar Stolz unter all den Schichten aus Seide, Spitze und Leder blühte.
Dann passierte etwas, was Tracy jede Energie raubte. Sie hielt die Geschichte jahrelang vor uns geheim. Im Keller nannten wir diese Geschichte schlicht »die Katastrophe«, damit Tracy die Details des Schlimmsten, was ihr je passiert war, nicht erklären musste. Des Schlimmsten außer Jack Derber.
Nach der Katastrophe verschwand ihre Mutter wieder einmal, und diesmal war es vielleicht für immer. Nach drei Wochen beschloss Tracy, dass sie nicht mehr zurückkommen würde. Vermutlich hätte sie diesen Zustand eine ganze Weile vor dem Sozialamt geheim halten und auf den Schecks die Unterschrift ihrer Mutter fälschen können, bis sie ein bisschen Geld zusammengespart hatte, aber all das war ihr mittlerweile gleichgültig.
Sie tauchte noch tiefer in die Clubszene ein, krank, unglücklich und einsam. Ihr Leben führte ins Nichts, und sie war schlau genug, es zu erkennen. Mit Alkohol allein ließ sich diese Erkenntnis nicht mehr betäuben. In dieser Nacht bot ihr ein Fremder im Club einen Schuss an. In dieser verhängnisvollen Nacht nahm sie die Spritze im Dunkeln entgegen, und ihre Hände zitterten vor Angst und Vorfreude. Vielleicht war Heroin ja doch die Lösung: der schnellste Weg aus dem Schmerz, wenn auch nur für ein Weilchen.
Sie hatte genug Leute beim Fixen beobachtet, um zu wissen, wie es ging. Also nahm sie den Lederriemen und band ihn sich fest um den Arm. Die Nadel fand wie von selbst ihren Weg in die Vene, schlüpfte in Tracy hinein, als sei sie schon immer ihre Bestimmung gewesen. Gleich der erste Schub erfüllte ihr Herz mit Freude und vertrieb ihr ganzes Leid, fegte es beiseite wie der frische Wind, der bei Tagesanbruch durch die Straßen der Stadt pfiff. Zum ersten Mal in ihrem Leben verstand sie ihre Mutter und fragte sich, ob sie nicht von Anfang an recht gehabt hatte.
Irgendwie wankte Tracy aus der Hintertür des Clubs in die Seitengasse hinaus, wo sie alleine war und den Genuss voll auskosten konnte. Es war eine heiße
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