Danach
graumeliertes Haar und verschmitzte blaue Augen. Man sah sofort, was Val damit gemeint hatte, dass er einem ein Ohr abkauen konnte. Alles an ihm strahlte positive Energie und Gesprächigkeit aus. Nachdem Val ihn darüber aufgeklärt hatte, dass ich ein Buch über den Derber-Fall und speziell über Sylvia Dunham schrieb, lud er mich sofort zum Abendessen ein. Ich schlug die Einladung schweren Herzens aus, weil ich den Gedanken nicht ertrug, im Dunkeln zurück ins Hotel fahren zu müssen. Aber Ray bestand darauf, dass wir im Coffee Shop noch rasch eine Tasse Kaffee zusammen tranken.
Val rollte vielsagend mit den Augen. »Ich hab’s Ihnen ja gesagt. Also ich habe für heute die Nase voll von dem Laden. Trinkt ihr ruhig euren Kaffee, ich flitze inzwischen zu Mike’s rüber und besorge ein paar Kleinigkeiten.«
Wir ließen uns in einer Sitznische nieder, und noch bevor wir richtig saßen, legte Ray auch schon los: »Sylvia ist vor ungefähr sieben Jahren hierhergezogen. Sie wissen ja vermutlich, dass sie aus den Südstaaten stammt. Nettes Mädchen, aber ein bisschen still. Wirklich schade, dass sie an diese Kirche des Heiligen Geistes geraten ist. Wenn Sie mich fragen, ist das eine Sekte und sonst gar nichts.«
»Wie meinen Sie das?«
Er zögerte, ließ seinen Blick durch den Raum streifen, bevor er fortfuhr: »Also dieser Noah Philben war nicht immer religiös, müssen Sie wissen.«
»Sie kennen ihn?«
Ray stützte sich mit den Ellbogen auf dem Tisch ab und beugte sich näher zu mir herüber, einen verschwörerischen Ausdruck auf dem Gesicht. »Ich bin mit seinem Cousin zur Schule gegangen und kannte daher die Familie. Ein Jammerlappen, dieser Noah. Hat viel zu viel getrunken und auch ein paar Drogen genommen. Nach der Highschool ist er weggegangen und war mehrere Jahre verschwunden. Niemand weiß, was damals passiert ist. Seine Familie ist fast verrückt geworden vor Sorge, aber sie hat nicht gerne darüber geredet. Als Noah zurückkam, war er ein bisschen durch den Wind. Er hat dann zwar versucht, wieder im Steinbruch zu arbeiten, den Job aber nach ein paar Monaten verloren. Und dann hat er seine ›Kirche‹ gegründet, wenn Sie es so nennen wollen.« Er zeigte plötzlich aus dem Fenster des Coffee Shops. »Da sind sie übrigens.«
Ich folgte seinem Blick und sah einen weißen Kleinbus mit getönten Scheiben um den Platz fahren.
»Das ist das Gemeindefahrzeug.«
»Die Dame von der Kirche an der Ecke scheint gelinde gesagt nicht gerade begeistert von Philbens Gruppe zu sein.«
»Oh, das war sicher Helen Watson. Die haben Sie also schon kennengelernt? Die Freundlichkeit in Person, was? Tja, die ist natürlich von nichts begeistert, was mit Noah zu tun hat. Er war ihre große Highschool-Liebe. Als er die Stadt verließ, ging sie mit ihm und kam zwei Jahre später wie ein geprügelter Hund zurück. Sie spricht nie über diese Zeit. Geht niemanden was an, sagt sie. Später hat sie Roy Watson geheiratet, der dann vor ungefähr zehn Jahren Pastor der Kirche geworden ist. Es heißt, sie hätte ihn dazu gedrängt, aufs Predigerseminar zu gehen, weil sie schon immer die Frau eines Pastors sein wollte. Jetzt hält sie sich für die Königin der Stadt.«
Weil ich mir nicht vorstellen konnte, wie mir die örtliche Gerüchteküche weiterhelfen sollte, versuchte ich, das Gespräch wieder auf Sylvia zu lenken: »Ich bin heute an Sylvias Haus vorbeigefahren, aber sie war nicht zu Hause. Sieht so aus, als wäre schon eine ganze Weile niemand mehr da gewesen.« Dass ich in Sylvias Post herumgeschnüffelt hatte, verschwieg ich geflissentlich. Prompt spürte ich, wie mir die Schamröte ins Gesicht stieg.
»Jetzt, wo Sie es sagen … Keine Ahnung, wann ich sie das letzte Mal gesehen habe. Sie lebt sehr zurückgezogen, kommt aber ein- oder zweimal die Woche in den Coffee Shop, ungefähr um die Zeit, wenn ich Val abhole.«
»Hat sie einen Job, oder fällt Ihnen sonst jemand ein, den ich nach ihr fragen könnte?« Ich hatte das Gefühl, an einem toten Punkt angelangt zu sein.
»Nicht dass ich wüsste. Jedenfalls nicht hier in der Gegend. Ich bin wohl doch keine so große Hilfe, wie ich dachte.«
»Was ist mit ihrer Familie in den Südstaaten? Hat sie je von ihr erzählt?« Es war ungewohnt für mich, so viele Fragen zu stellen. Normalerweise vermied ich es, Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, und beendete Gespräche so schnell wie möglich. Selbst meine Stimme klang seltsam fremd und weit entfernt, wie eine schlechte
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