Danach
Vorwarnung und ohne ein Wort zu sagen, führte er mich von der Folterbank, aus der Bibliothek und schließlich zur Haustür. Beinahe instinktiv drehte ich mich noch einmal um, spähte durch die Tür zurück in die Bibliothek, warf einen fast schwermütigen Blick auf die Folterbank und hoffte, dass die Erinnerung an die Schmerzen mir Kraft gab.
Das Holz, aus dem die Folterbank gezimmert war, schien zu glühen, die Sonne, die durch das Fenster hereinschien, tauchte es in magischen Glanz. Ich drehte langsam den Kopf und blickte wieder nach vorne durch die Tür, die ich noch nie zuvor offen gesehen hatte. Meine Füße müssen sich bewegt haben, aber in meinem Traum schwebte ich zur Tür, unfähig, meine Bewegungen zu kontrollieren. Ich war ein Gespenst, ein Fabelwesen, wie Luft.
Jack zeigte nach draußen und sagte: »Du willst sie sehen, oder?«
Er hatte schon mehrmals angekündigt – um mich zu verhöhnen, da war ich mir sicher –, dass er eines Tages Jennifers Leiche ausgraben werde, nur für mich, eines fernen Tages, wenn er endlich das Gefühl habe, mir vertrauen zu können. Wenn das Vertrauen so groß sei, dass er sie mir zeigen könne. Dann könne ich sie anfassen, wenn ich wolle, mich neben sie legen.
Wenn er so redete, wusste ich nie, ob er mir vielleicht nur mit demselben grausamen Tod drohte, den er ihr hatte angedeihen lassen, wie auch immer er ausgesehen haben mochte.
Jetzt blickte ich durch die Tür und hatte nach all der Zeit in Gefangenschaft beinahe Angst vor der Weite, die dahinter lag. Ich hatte Monate damit verbracht, Jacks Vertrauen in mich aufzubauen, ihn glauben zu machen, dass ich mein ›Schicksal‹ akzeptiert hätte, dass ich nicht den Wunsch verspürte, davonzulaufen. All dies hatte mich einen hohen Preis gekostet, und ich wollte auf keinen Fall riskieren, dass jetzt etwas schiefging.
War dies der große Moment? Ein falscher Schritt, und ich war tot. Oder frei. Es gab nur diese beiden Optionen, vielleicht waren sie sogar ein und dasselbe. Wie auch immer es ausging, dieser Moment würde alles verändern. Er war der Wendepunkt. Mein Herz klopfte so stark, dass ich Angst hatte, es würde explodieren.
Die Gelegenheit war unerwartet gekommen, ich hatte nicht so bald mit ihr gerechnet. Weiter als bis zur Tür war ich mit meiner Planung nicht gekommen. War dies wirklich der richtige Zeitpunkt? Da ich seit zwei Tagen nichts mehr gegessen hatte, hatte mein sonst so analytischer Verstand Mühe, die Chancen für eine erfolgreiche Flucht einzuschätzen. Dass ich nackt war und große Schmerzen hatte, war ebenfalls keine Hilfe. Meine Verwundbarkeit hätte größer nicht sein können, aber ich war zu allem entschlossen.
Wenn ich ganz ehrlich war, musste ich mir eingestehen, dass es während der vergangenen Monate durchaus Momente gegeben hatte, in denen mein Wille ins Wanken geraten war, in denen ich erwogen hatte aufzugeben und zu akzeptieren, dass ich den Rest meines Lebens im Keller verbringen würde, bis Jack eines Tages beschloss, mich umzubringen. Wenn ich mich nicht mehr wehrte, nicht einmal in Gedanken, würde er sich vielleicht gnädig zeigen, zumindest was die körperlichen Strafen anging, und ich würde mit den kleinen Vergünstigungen, die ich mir durch meinen Gehorsam verdiente, zufrieden leben können.
Durch die offene Tür sah ich eine kleine Veranda und dahinter eine nicht asphaltierte Auffahrt, an deren Ende eine rote Scheune stand. Die Scheune war groß und baufällig, und unter der abblätternden Farbe waren die morschen Bretter zu sehen. Das Scheunentor war angelehnt, aber ich sah nichts als Dunkelheit.
Es dauerte, bis ich die Leiche wahrnahm. Nach und nach gewöhnten sich meine Augen an die ungewohnte Weite und fanden ihren Weg zu einer blauen Plane, die links vom Scheunentor auf dem Boden lag. In die Plane war eine menschliche Gestalt eingewickelt.
Mir blieb fast das Herz stehen, als mir klarwurde, dass das verfärbte, aufgedunsene Etwas, das am Ende der Plane herausragte, ein Fuß war. Er war so schmutzig, dass er kaum noch als Teil eines menschlichen Körpers erkennbar war. Die Erde hatte um die geschwollenen Fußgelenke und Zehen Krusten gebildet. Offenbar hatte er sie ohne Sarg oder sonstigen Schutz vergraben.
Er stieß mich durch die offene Tür, und ich begann langsam auf die Leiche zuzugehen. Obwohl ich seit vielen Monaten wusste, dass er Jennifer umgebracht hatte, obwohl ich geglaubt hatte, bereits um sie getrauert zu haben, waren Angst und Kummer bei ihrem Anblick
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