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Danach

Danach

Titel: Danach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Koethi Zan
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plötzlich wieder da, stärker als je zuvor. Tapfer kämpfte ich gegen die Wellen des Schmerzes und der Reue an, die in mir aufstiegen, und konzentrierte mich ganz auf den Moment. Sollte ich sofort die Flucht ergreifen oder erst einen Blick auf sie werfen, meine geliebte Jennifer?
    Wie immer, wenn ich an dieser Stelle des Traums angekommen war, wachte ich schweißgebadet auf, während Jacks Gelächter in meinem Kopf widerhallte. Ich setzte mich auf, ging in das kleine, sterile Badezimmer des Hotels und trank ein Glas kaltes Wasser nach dem anderen. Dann ging ich wieder zum Bett und setzte mich, ohne Licht zu machen.
    Nach und nach gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit, und ich erkannte undeutlich die Umrisse der Möbel. Ich selbst bildete im Spiegel, der gegenüber an der Wand hing, einen schwarzen Schatten. Er war ein vertrauter Freund, dieser Schatten, mein einziger Freund. Manchmal tat ich so, als wäre er der Geist Jennifers. Ich unterhielt mich oft mit ihr, aber sie antwortete nie, genau wie in den Jahren, die sie in der Kiste verbracht hatte.
    In dieser Nacht sah ich sie einfach nur lange an, bis ich schließlich aufstand und zum Spiegel hinüberging, um ihre Umrisse mit dem Zeigefinger nachzuzeichnen. Das einzige andere menschliche Wesen, das ich anzufassen wagte. Wer von uns beiden hatte mehr Glück? Jennifer musste nie wieder allein sein, während ich hier saß, gefangen in meinen Ängsten, eine isolierte, einsame Gestalt, die niemanden an sich heranließ. Nach außen hin abgeschottet, geleitet allein von ihren Phobien und ihrer Paranoia. Kaputt. Nicht reparierbar.

22
    Ein paar Tage später flogen Tracy und ich nach Birmingham, wo wir uns ein Auto mieteten und stundenlang einen vierspurigen Highway entlangfuhren, bis wir in eine typische amerikanische Kleinstadt mit ihrer zusammenhangslosen Mischung aus Landwirtschaftskooperativen, halbleeren Einkaufszentren und Kriegsveteranenvereinen abbogen. Tracy machte einen entspannten Eindruck und schien sich zu freuen, wieder im Süden zu sein. Hier war sie zu Hause.
    Vielleicht war es ihre gute Stimmung, die ihr die nötige Nachsicht gegenüber meinen vielen Spleens verlieh. Sie tolerierte mein Zusammenzucken, wenn sie den Kofferraum zuschlug, die Systematik, mit der ich immer wieder meine Gepäckstücke abzählte, mein Handy kontrollierte, nachsah, ob noch alle Kreditkarten in meinem Portemonnaie waren, nach dem Anschnallen dreimal am Gurt zog, um ganz sicherzugehen, dass er funktionierte, die Tatsache, dass ich eine schlechte Beifahrerin war und nervös alle anderen Fahrer beäugte, als befänden wir uns in einem Wagenrennen und sie hätten es nur darauf abgesehen, uns von der Straße zu drängen.
    Ich war ihr dankbar dafür, dass sie sich dadurch lediglich ein amüsiertes Grinsen entlocken ließ. Mir war klar, was für eine nervenaufreibende Reisebegleitung ich war, aber wenn ich mich nicht dieser Bewältigungsmechanismen bediente, wie Dr. Simmons sie nannte, würde meine Panik unaufhörlich zunehmen und sich dann fest in mir einnisten, das wusste ich aus Erfahrung. Die vielen Listen, die ich im Alltag anlegte, beruhigten mich. Der Herd ist aus, die Tür ist abgeschlossen, die Alarmanlage ist an.
    Der Juni in Alabama war schlimmer als erwartet. Ich hatte gewusst, dass es heiß und feucht werden würde, aber ich hatte nicht damit gerechnet, dass die feuchte Luft so schwer auf einem lastete, dass man sich am liebsten in ein Erdloch verkrochen hätte. Während ich die Klimaanlage des Mietwagens auf die höchste Stufe stellte, drehte Tracy die Lautstärke des Radios auf, vermutlich um sich nicht mit mir unterhalten zu müssen.
    Unser Plan sah vor, dass wir direkt zum Haus von Sylvias Eltern fuhren. Sie wohnten in einem kleinen Ort namens Cypress Junction in der Nähe von Selma, im Südosten des Bundesstaates.
    Als wir endlich ankamen, war auf den ersten Blick zu erkennen, dass das Städtchen seine besten Tage hinter sich hatte. In den meisten Schaufenstern der verblichenen Backsteingebäude an der Hauptstraße, die allesamt noch aus der Depressionszeit stammten, hingen »Zu vermieten«-Schilder. Wir fuhren an einer Bank, einem Postamt, einem Rathaus und einem Drugstore vorbei. Auf keinem Parkplatz standen mehr als zwei Autos. Ein kleines Restaurant hatte ein Schild in der Tür hängen, auf dem »Geöffnet« stand, aber durch die Fenster sah man, dass die Stühle auf den Tischen standen und das Licht ausgeschaltet war.
    »Wovon leben die Leute hier?«, fragte

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