Danach
seelische Verwandtschaft zu ihr zu entdecken.
Während Tracy und ich den Blick über die Hügel schweifen ließen, zog Dan ein kleines Taschenmesser hervor und schnitzte an einem Stock herum, den er vom Boden aufgehoben hatte, mit gesenktem Kopf, unempfänglich für die hinreißend schöne Abendstimmung, die sich am Horizont abzuzeichnen begann. Dann fing er an zu erzählen.
»Sie war ein schlaues Kind, unsere Sylvia. In der Schule hier im Ort hatten sie angeblich noch nie eine Schülerin, die bei den Zentralklausuren eine so hohe Punktzahl erreicht hat wie sie. Aber sie war nicht nur eine gute Schülerin, sondern auch ein echter Schatz, warmherzig, hilfsbereit, liebevoll. In der Pubertät wurde dann alles anders. Das haben uns die Leute immer schon prophezeit, aber wir haben ihnen nicht geglaubt. Wir sind davon ausgegangen, dass sie später mal ein gutes College besuchen und hinterher vielleicht in New York leben würde, oder sogar in Europa. Damit wären wir klargekommen, selbst wenn wir sie dann nur noch selten zu Gesicht gekriegt hätten. Aber dann kam alles ganz anders als erwartet.«
»Wie fing das an mit ihrer Religiosität?«, fragte ich.
Er schwieg einen Moment und hob den Stock vors Gesicht, um das Ergebnis seiner Schnitzkunst in Augenschein zu nehmen.
»Das war im letzten Highschooljahr. Am Anfang hat sie noch mit uns über ihre religiösen Ansichten gesprochen und wollte tiefschürfende philosophische Diskussionen mit uns führen. Das war nicht so mein Ding, was ich ihr auch gesagt habe. Allerdings war mir klar, dass sie mich vollkommen aus ihrem Leben ausschließen würde, wenn ich nicht mit ihr diskutierte, also bin ich in die Bücherei gegangen und habe mir die entsprechenden Bücher ausgeliehen. An den meisten Abenden bin ich über der Lektüre eingeschlafen. Aber ernsthafte Sorgen habe ich mir erst gemacht, als sie angefangen hat, im Internet zu surfen. Kurz darauf hat sie uns zum ersten Mal von ihrem ›religiösen Führer‹ erzählt. Ich wusste nicht, was dahintersteckte. War er ein Betrüger, wollte er Geld von Sylvia? Aber sie hatte kein Geld, und wir auch nicht.«
Er warf den Stock beiseite, dessen Ende jetzt spitz war, und hob einen neuen auf.
»Sie ist uns immer weiter entglitten. Beim Abendessen hat sie kaum noch den Mund aufgemacht, dabei war der Esstisch immer das Herzstück unseres Familienlebens. Bevor sie uns körperlich verlassen hat, war sie geistig schon lange nicht mehr anwesend. Irgendwann hat sie dann tatsächlich ihre Koffer gepackt und verkündet, ihr Führer würde sie am Güterbahnhof in der Stadt abholen. Wir sollten uns keine Sorgen machen, sie würde sich bei uns melden. Wir wollten natürlich mitfahren und sie wenigstens zum Bahnhof bringen, aber sie wollte es nicht. Unser Vorschlag hat sie in Panik versetzt, deshalb haben wir sie schließlich alleine fahren lassen.
Sie hat uns nur ihre E-Mail-Adresse hinterlassen. Ich habe mir noch am selben Tag ein E-Mail-Konto einrichten lassen, mit Hilfe der Bibliothekarin. Sylvia hat uns ein paarmal auf unsere E-Mails geantwortet, aber dann ist der Kontakt irgendwann abgerissen.«
»Hat sie … hat sie Ihnen denn nicht geschrieben, dass sie heiraten wollte?«, fragte ich zaghaft. Einerseits befürchtete ich, Salz in die Wunde zu streuen, andererseits hoffte ich, dass er Näheres über die Umstände der Hochzeit wusste.
Er schüttelte den Kopf.
»Damals hatten wir schon zwei Jahre nichts mehr von ihr gehört. Von der Hochzeit haben wir nicht durch sie erfahren, sondern aus der Zeitung. In dem Artikel stand nur, dass sie eine Brieffreundschaft mit einem Häftling geführt hat und ihn nun heiraten wollte. Wir haben natürlich nachgeforscht, und als wir herausgefunden haben, wer dieser Mann war und was er getan hatte, ist Erline in meinen Armen zusammengebrochen. Sie hatte einen Weinkrampf, und ich schäme mich nicht zuzugeben, dass auch ich geweint habe. Und wie ich geweint habe.« Bei diesen Worten hob er den Kopf, steckte sein Messer in die Tasche und blickte hinaus über die Hügel.
»Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Man stellt sich das kleine Mädchen, das man hier großgezogen hat, auf dem Land, das schon ihre Großeltern und Urgroßeltern bewirtschaftet haben, in den Armen eines kranken, perversen Mannes vor, eines Mannes, der anderen jungen Frauen Schreckliches angetan hat. Es gibt nichts Schlimmeres, als wenn die eigene Tochter lieber ein Leben an der Seite eines Monsters führt, als die schönen Dinge in
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