Danach
Erleichterung, sich in die festungsähnlichen Gemäuer flüchten zu können. Nachdem ich meinen Koffer auf dem weichen cremefarbenen Teppich meines Zimmers abgestellt hatte, sah ich mich gründlich um. Die Bettlaken waren straff gespannt und makellos sauber, das Federbett dick und warm, und auf dem Papierumschlag des Kartenschlüssels stand der Zugangscode für die W-LAN-Verbindung des Hotels. Ich war im siebten Himmel.
Ich schnappte mir die Fernbedienung, schaltete den Fernseher an und klappte meinen Laptop auf. Meine Suchanfrage nach Sylvia Dunham ergab, dass es sich um einen recht häufigen Namen handelte, aber gleich die ersten Treffer bezogen sich auf die richtige Sylvia Dunham: einige Artikel über sie in kleineren Lokalzeitungen aus Oregon sowie Berichte größerer Nachrichtenblätter, in denen es um ihre Hochzeit mit Jack Derber ging. Aufhänger war meist die wundersame Wandlung dieser menschlichen Bestie durch die Liebe, die er in Form von Sylvias Briefen erfahren hatte. Hätten diese Reporter doch nur gewusst, dass Jack Derber zu so etwas wie Liebe nicht fähig war.
Ein Journalist versuchte es sogar auf die witzige Tour und spickte seinen Artikel mit derben Scherzen – in der Überschrift nannte er Jack »Professor Schmerz«, so als wäre er ein Zeichentrickschurke, mehr nicht. Sein Bericht machte mich so wütend, dass ich meinen Laptop zuknallte. Nachdem ich mich erschrocken vergewissert hatte, dass der Bildschirm noch ganz war, griff ich nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus. Dann saß ich bewegungslos in der Stille und starrte auf mein Spiegelbild auf dem dunklen Fernsehschirm.
Was suchte ich überhaupt in diesen Zeitungsartikeln? Vermutlich hatte mich der Wunsch nach einem aktuellen Foto geleitet, weil ich wissen wollte, welche junge Frau darauf zu sehen war – das Mädchen aus dem ersten oder das aus dem letzten Highschooljahr. Aber natürlich hatten die Zeitungen nur Fotos von Jack gedruckt, dem Star der Geschichte, der mir mit seinem unheimlichen schiefen Lächeln entgegenstarrte.
Konnte Sylvia wirklich an der Seite eines Mannes wie ihm das Glück ihrer frühen Jugend wiedergefunden haben?
Hatte er sich von ihrer Ausgelassenheit angezogen gefühlt, die selbst die steifen Posen der Schulfotos nicht hatten bändigen können? Ich kannte Jack. Bestimmt hatte es ihn gereizt, jemanden zu heiraten, der so jung war, so verletzlich, so lebendig. Bestimmt hatte ihn ihr Enthusiasmus, ihre Naivität angezogen. Und bestimmt hatte er es genossen, Sylvias ganz besonderes Leuchten mit einer Brutalität auszulöschen, die wenige so gut kannten wie ich.
23
Am nächsten Tag brachen Tracy und ich zu unserem Abstecher nach New Orleans auf. Ich war noch unruhiger als sonst, weil ich es kaum erwarten konnte, zurück nach Oregon zu kommen und meine Nachforschungen wiederaufzunehmen. Sämtliche Fäden liefen dort zusammen, das spürte ich, auch wenn ich noch nicht wusste, auf welche Weise sie sich verbinden ließen. Aber der Ausflug nach New Orleans war Tracys einzige Bedingung gewesen, also war er unvermeidlich. Ich hätte zu gerne gewusst, was sie dort zu erledigen hatte, aber es wäre mir indiskret erschienen, sie danach zu fragen.
Am späten Nachmittag erreichten wir endlich die Stadt. Ich spürte eine eigenartige Aufregung in mir aufsteigen, weil mir die Geschichten, die Tracy uns im Laufe der Jahre im Keller erzählt hatte, noch lebhaft in Erinnerung waren. Alles hatte so märchenhaft geklungen, so magisch.
Das French Quarter war tatsächlich wunderschön, prächtig und marode zugleich. Aber Tracy fuhr mich kreuz und quer durch die Straßen und zeigte mir die weniger schönen Orte ihrer Kindheit und Jugend: eine Straßenecke, an der sich die Bettler und Schnorrer aufhielten, ein heruntergekommenes Feinkostgeschäft, eine unheimliche Seitengasse.
»Nicht gerade wie aus dem Reiseführer, was?«, sagte sie, während sie rückwärts vor einem schmierig aussehenden Restaurant einparkte.
Erst als wir nach einem schnellen Happen zum Auto zurückkehrten, wurde sie plötzlich ernst.
»Los geht’s.« Ich hatte keine Ahnung, wohin wir fuhren, aber ich nickte. Ich nickte immer, wenn Tracy etwas sagte. Das war schon damals im Keller so gewesen, wo sie mein Leben fast genauso beherrscht hatte wie Jack Derber. Mir fiel auf, dass sie auch heute noch fest davon ausging, dass ich widerstandslos ihre Anweisungen befolgte. Sie fragte mich nie nach meiner Meinung, genauso wenig wie sie mich damals im Keller
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