Danach
Anspruch zu nehmen, die man ihr bieten wollte.«
Als ich sah, wie Dan die Tränen in die Augen stiegen, musste ich mich umdrehen und ein paar Schritte zur Seite gehen. Auf so viel Trauer und Leid war ich nicht vorbereitet gewesen, und schon gar nicht darauf, dass ich Zeugin derselben Qualen wurde, die auch meine Eltern während all der Nächte durchgemacht haben mussten, die ich im Verlies verbracht hatte, all der Nächte, in denen ich mir gewünscht hatte, ihnen sagen zu können, dass ich an sie dachte und unversehrt war. Na ja, nicht wirklich unversehrt, aber immerhin noch am Leben.
Tracy starrte unbehaglich zu Boden. Dieser Mann zeigte eine Elternliebe und Emotionalität, die sie nie erfahren hatte. Bestimmt schmerzte es sie, dass so viel Liebe an eine junge Frau verschwendet wurde, die ihr heiles Zuhause freiwillig aufgegeben hatte, um sich mit dem Teufel einzulassen.
Aber Dan hatte sich schnell wieder unter Kontrolle und wischte sich die Augen. »Na ja, jetzt lässt sich das alles wohl nicht mehr ändern. Sie ist erwachsen und kann ihre eigenen Entscheidungen treffen.«
Ich kehrte zu Dan und Tracy zurück.
»Mr Dunham«, sagte ich sanft. »Ich weiß, wie schwer das alles für Sie ist, aber haben Sie die E-Mails vielleicht noch, die Sylvia Ihnen am Anfang geschrieben hat?«
»Ich weiß, dass ich sie damals ausgedruckt habe, also müssten sie eigentlich noch irgendwo sein. Allerdings bezweifle ich, dass sie Ihnen weiterhelfen werden.«
Nachdem Erline uns einen gebackenen Schinken mit mehreren Sorten frittiertem Gemüse aufgetischt hatte, räumten wir den Tisch leer, und Dan holte seine Kiste mit alten Aktenordnern. Auf einer dicken Mappe ganz hinten stand ein einziges Wort: Sylvia . Er zog die Mappe heraus und breitete das Leben seiner Tochter bis zum Alter von einundzwanzig Jahren vor uns aus: ihre Geburtsurkunde, ihren Impfpass, Schulzeugnisse und Klassenfotos, die in einem kleinen rosa Umschlag steckten.
Ich nahm ein Foto in die Hand.
Sie war ein hübsches Mädchen gewesen: dunkelblonde Haare, blaue Augen und ein offenherziges Lächeln. Sie wirkte selbstsicher und anziehend. Von Dan erfuhren wir, dass das Foto aus ihrem ersten Highschooljahr stammte.
Auf dem nächsten Foto hatte sie die gleiche Frisur und war kaum älter, aber ihr Lächeln wirkte verkrampft. Ihr Blick schien auf einem Punkt irgendwo in der Ferne zu ruhen. Dan sagte nichts dazu, betrachtete das Foto nur eine Weile und schob es dann mit einem Seufzer zurück in den Umschlag.
Erline verließ die Küche nicht ein einziges Mal, während wir Sylvias Vergangenheit durchkämmten. Bestimmt stand sie allein am Küchenfenster und starrte mit gequältem Gesicht in die Dunkelheit hinaus, während sie energisch Pfannen und Töpfe schrubbte, die Hände rot und schuppig vom Spülwasser.
Dan hatte nun die letzten Seiten der Mappe erreicht: die ausgedruckten E-Mails von Sylvia. Tracy und ich lasen sie durch, konnten aber nichts Bedeutsames entdecken. In gewisser Weise erinnerten sie an Jacks Briefe: poetisch, aber wirr und sinnlos. Dennoch war deutlich ein optimistischer Unterton herauszuhören, als hätte Sylvia ihren Enthusiasmus wiederentdeckt, nachdem sie endlich bei ihrem religiösen Führer war.
Die letzte E-Mail klang ganz und gar nicht wie ein Abschied. Sie las sich wie der Brief einer Vierzehnjährigen aus dem Sommerlager, die begeistert erzählte, dass sie es schwimmend durch den ganzen See geschafft hatte. Sylvia schwärmte von der »mystischen und göttlichen Erfahrung«, an der sie teilhaben durfte, und von der Erfüllung all ihrer Träume »in Gestalt eines echten, leibhaftigen Wunders«.
Ich wünschte, es hätte sich tatsächlich um einen Brief aus dem Sommerlager gehandelt. Dann hätten wir wenigstens anhand des Poststempels bestimmen können, wo sie sich zum Zeitpunkt des Abschickens aufgehalten hatte.
Tracy und ich lehnten Dans und Erlines Übernachtungsangebot dankend ab und irrten stattdessen über eine Stunde mit dem Mietwagen in der Gegend herum, bis wir endlich ein hell erleuchtetes Motel am Rande des Highways entdeckten. Tracy warf mir einen fragenden Blick zu, aber ich schüttelte den Kopf. Es ging einfach nicht. Also fuhr sie weiter, auf der Suche nach einem größeren Hotel, in dem ich mich sicherer fühlte. Letztendlich fuhren wir die ganze zweistündige Strecke nach Birmingham zurück, wo wir im Stadtzentrum auf ein Hotel in einem prächtigen historischen Gebäude stießen, mit Portier und Parkservice.
Es war eine
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