Danach
jetzt ein anderer Mensch war, aber ich war mir nicht sicher, ob das überhaupt stimmte. Also nickte ich nur langsam. In diesem Moment konnte ich ohnehin nur verarbeiten, dass sie mich nicht umbringen wollte. Ich hatte mich wieder einmal von meinen Ängsten überwältigen lassen und die Zeichen um mich herum falsch gedeutet. Würde das jemals anders werden?
Ohne ein weiteres Wort machten wir uns auf den Weg zum Auto, das immer noch mit laufendem Motor dastand. Tracy legte den ersten Gang ein, und wir setzten unsere Fahrt fort. Sie sah trauriger aus, als ich sie je zuvor gesehen hatte, und schien tief in Gedanken versunken. Ich starrte einfach nur schniefend geradeaus.
Kurz darauf bog Tracy vorsichtig in einen kleineren Feldweg ein, der kaum breiter war als ein Pfad und gerade noch genug Platz für das Auto bot. Zweige streiften das Dach und die Seiten des Wagens. Der Pfad endete schließlich auf einer Wiese.
»Von hier aus gehen wir zu Fuß weiter.« Sie stellte den Motor ab und stieg aus. Ich folgte ihr mit meiner Handtasche, deren Riemen immer noch fest um mein Handgelenk gewickelt war. Beim Aussteigen stolperte ich, als ich auf das Gras trat. Wir gingen etwa fünfzig Meter über die Wiese und blieben dann stehen.
Ich sah Wasser in der Ferne glitzern und vermutete, dass wir uns auf einem verlassenen Zeltplatz befanden. Die einstige Feuerstelle war von hohem Gras überwuchert, und es lag überall Müll herum. Ein Blick auf mein Handy verriet, dass die Sonne bald untergehen würde.
Ich sah mich um. Wenn man den Unrat ausblendete, war es ein wunderschöner, friedlicher Ort. Die Bäume waren so üppig grün, wie sie es nur tief im Süden der Vereinigten Staaten oder in den Tropen sind, und die Luft war längst nicht so drückend schwül wie in der Stadt. Der leichte Wind, der übers Wasser strich, vertrieb die Feuchtigkeit.
Wir blickten einige Minuten schweigend über den See in die untergehende Sonne. Dann hielt ich es nicht länger aus.
»Tracy?«
»Ja?«
»Was tun wir hier eigentlich?«
Es dauerte eine ganze Weile, bis sie antwortete.
»Hier an diesem Ort hat mein Leben eine entscheidende Wendung genommen.«
Ich wartete geduldig, bis sie bereit war fortzufahren. Wenn Tracy Geschichten erzählte, folgte sie ihrem eigenen Tempo. Schließlich winkte sie mir, ihr zu folgen, und ging zum Ufer hinunter. Der Himmel war ein Gemälde in Orange und Rosa, das sich funkelnd im See spiegelte.
»Genau dort.« Sie zeigte auf eine Stelle im Wasser. Wieder wartete ich geduldig, bis sie erneut das Wort ergriff.
»Dort hat er es getan. Dort ist die Katastrophe passiert. Dort ist Ben gestorben.«
Natürlich, jetzt wurde mir alles klar! Ich riss entsetzt die Hand vor den Mund. Wie gerne hätte ich sie getröstet, aber diese Fähigkeit hatte ich während meiner jahrelangen Isolation völlig verlernt. Plötzlich wurde mir klar, dass meine Unfähigkeit, mich von der Vergangenheit zu erholen, meine Welt geschrumpft hatte, sie so klein gemacht hatte, dass nur noch ich selbst hineinpasste. Zum ersten Mal traf mich die Erkenntnis, dass meine seelische Versehrtheit sich in Narzissmus verwandelt hatte. Und dass ich nicht bemerkte, wenn andere etwas von mir brauchten.
Ich machte zögernd einen Schritt auf Tracy zu, eine völlig unzureichende Geste, aber sie winkte ab.
»Irgendwo hier ist er in den See gegangen.« Sie zeigte auf einen kleinen Strand etwa fünf Meter von uns entfernt. »In dieser Richtung haben sie später Fußabdrücke von ihm gefunden, sein Zelt stand dort hinten zwischen den Bäumen. Er hat hier mit ein paar obdachlosen Freunden gehaust, hat die Abende mit ihnen verbracht und Bier getrunken. Einer hatte eine Gitarre. Ich war auch oft hier, manchmal sogar mehrere Nächte in Folge, eine einzige, endlose Party.
Und dann ist er eines Nachts, als die anderen schon schliefen oder sich – was sehr viel wahrscheinlicher ist – ins Koma gesoffen hatten, aufgestanden und in den See gegangen. Einfach reingegangen und immer weitergelaufen. Einer seiner Freunde hat ein Platschen gehört und ist zum Ufer gerannt, aber er konnte ihn nicht mehr retten.
Es war zu spät. Ben ist sofort untergegangen und nie wieder an die Oberfläche gekommen. Am nächsten Tag haben sie den ganzen See abgesucht und seine Leiche gefunden. Er hatte sich eine Eisenkette an die Beine gehängt, die er irgendwo gefunden hatte. Kein Zweifel: Es war ihm ernst.
Alle paar Jahre komme ich hierher und versuche, mit ihm zu reden. Versuche ihn zu fragen,
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