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Danach

Danach

Titel: Danach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Koethi Zan
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er langsam kehrt und stieg wieder die Treppe hinauf. Ich zählte wie immer in Gedanken die Stufen mit. Dann hörten wir ihn oben in der Wohnung vor sich hinpfeifen.
    Dieses Mal hatte er uns offenbar nur einen Schrecken einjagen wollen. Christine wimmerte vor Erleichterung. Ich atmete langsam aus, bis alle Luft aus mir entwichen war. Über uns waren Schritte in der Küche zu hören, wo Jack vermutlich seinem normalen Tagesablauf nachging. So als hätte er nur kurz im Keller nachgesehen, ob der letzte starke Regen Wasserschäden hinterlassen hatte.
    Tracy verbrachte den Großteil des Tages schlafend, zu einer Kugel zusammengerollt. Sie wirkte so leblos, dass ich genau hinsehen musste, um zu erkennen, wie sich ihre Brust hob und senkte.
    Am frühen Abend, der für uns nur daran erkennbar war, dass der kostbare Lichtstrahl, der zwischen den Brettern hereinsickerte, dunkler wurde, schrak sie plötzlich aus dem Schlaf. Ohne auch nur einen Blick in meine Richtung zu werfen, kroch sie zum Badezimmer, ein Weg, für den ihre Kette gerade lang genug war. Ich hörte, wie sie sich heftig würgend in die Toilette übergab.
    Danach blieb sie lange im Badezimmer. Ich spitzte die Ohren und glaubte, ein ersticktes Schluchzen zu hören. Mir ging es oft genauso, deshalb nickte ich wissend. Tracy hätte uns niemals gezeigt, dass sie weinte. Offenbar wartete sie im Badezimmer, bis die Tränen versiegt waren.
    Während die Zeit wie immer quälend langsam verstrich, hielt ich nach ihr Ausschau und überlegte, was sie wohl als Nächstes tun würde.
    Rückblickend schäme ich mich dafür, dass ich damals nichts für sie empfand, kein Mitleid, keine Sorge. Die Jahre der Gefangenschaft hatten jedes Einfühlungsvermögen in mir vernichtet. Das Einzige, was mich interessierte, war, ob mir etwas körperliche Schmerzen bereitete oder ob es die unerträgliche Langeweile meiner täglichen Existenz ein wenig zu lindern vermochte. Für mehr reichte meine emotionale Bandbreite nicht mehr.
    Irgendwann kroch Tracy wieder zu ihrer Matratze zurück, streckte sich darauf aus und drehte das Gesicht zur Wand. Erst glaubte ich, sie wäre sich meiner Anwesenheit wenige Meter entfernt überhaupt nicht bewusst.
    Christine schlief wieder einmal.
    »Hör auf, mich so anzustarren!«, fuhr mich Tracy plötzlich an. Ihre Stimme klang kräftiger, als ich es ihr angesichts ihres geschwächten Zustands zugetraut hätte.
    Als sie sich zu mir umdrehte, wandte ich schnell den Blick ab. Dort saß ich auf meiner Matratze, den Rücken an die Wand gelehnt, und starrte angestrengt in die andere Richtung. Aber nach ein paar Minuten konnte ich nicht umhin, einen flüchtigen Blick zu riskieren, um zu sehen, was sie machte.
    Sie bemerkte es natürlich und knurrte mich an wie ein tollwütiger Hund. Instinktiv wich ich zurück, wobei meine Kette laut rasselte.
    Christine bewegte sich, öffnete ein Auge und war nach einer Sekunde wieder eingeschlafen.
    Ich bewunderte Christine für ihre endlose Fähigkeit zu schlafen. Sie war das perfekte Beispiel für die menschliche Anpassungsfähigkeit, denn im Gegensatz zu uns gelang es ihr, ihr Kellerdasein weitgehend auszublenden. Am Ende war es vielleicht dieser Umstand, der sie rettete.
    Möglicherweise war das die Lösung für alles: Schlaf. Aber ich schaffte maximal zehn Stunden am Stück, egal wie sehr ich mich anstrengte. Und auch das nur an guten Tagen. Die fast völlige Bewegungslosigkeit im Keller führte bei mir immer wieder zu Anfällen von Schlaflosigkeit. Die Stunden, in denen ich wachlag, schlug ich tot, indem ich in Phantasiewelten abdriftete oder versuchte, eins der anderen Mädchen in ein Gespräch zu verwickeln, was oft im Streit endete.
    Aber es gab auch Zeiten, in denen es uns guttat, miteinander zu reden, in denen wir wunderbar miteinander auskamen. Dann riss sich selbst Christine von dem düsteren Ort los, an den sie sich gerne zurückzog, und wir unterhielten uns fast wie normale Menschen. Diese Gespräche kamen immer dann zustande, wenn die anderen beiden genauso gelangweilt waren wie ich, es genauso satt hatten, gegen ihre inneren Dämonen anzukämpfen. In solchen Momenten schafften wir es für einen Moment, unsere eigenen Befindlichkeiten beiseitezuschieben und unseren Verstand am Laufen zu halten, und sei es nur auf Sparflamme.
    Wir erzählten uns gegenseitig Geschichten aus unserer Vergangenheit, wahre und geschönte, egal was. Hauptsache, es verstrichen wieder ein paar Minuten, auch wenn keine von uns wusste, was am

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