Dance of Shadows
Vermisstenfälle haben sie zwar misstrauisch gemacht, aber als Beweise reichten sie ihnen noch nicht aus. Und jetzt sehen wir ja, was draus geworden ist.«
»Du hast versucht, mich zu warnen.« Vanessa dachte an die vielen Gelegenheiten, bei denen Justin ihr geraten hatte, die Schule zu verlassen. »Du hast Zep immer in Verdacht gehabt. Ich hätte auf dich hören sollen.« Vanessa sah ihm in die Augen. »Woher kannst du eigentlich Russisch?«
Justin lachte verlegen. »Das ist reiner Zufall. Meine Großmutter stammt aus Russland. Sie hat mir die Grundlagen beigebracht, als ich mich von meiner Verletzung erholt habe. Offenbar habe ich es als Kind fließend gesprochen, aber daran kann ich mich nicht mehr erinnern.« Er beugte sich vor, und seine Schultern streiften ihre. »Es könnte sich als praktisch erweisen, wenn wir den Dämon verfolgen, den du in die Welt gebracht hast. Gar nicht zu reden von den Leuten, die mit Josef und Hilda zusammengearbeitet haben.«
Sie musste sehr ungläubig geschaut haben, denn Justin lachte leise. »Hast du gedacht, Josef und Hilda wären die Einzigen, die über den
Danse du Feu
Bescheid wissen? Sie sind nur zwei Leute aus einer wirklich düsteren Gruppe von Nekrotänzern in Europa.«
»Also wirst du die Schule jetzt wieder verlassen?«, fragte Vanessa.
»Das muss ich«, sagte er. »Jetzt, wo der Dämon in der Welt ist, muss ich den anderen helfen, ihn zu finden. Aber ich will nicht gehen, wenn das bedeutet, dass ich dich hier zurücklassen muss.« Er schob seine Hand immer näher an ihre heran, bis sich ihre Finger beinahe berührten. »Ich wünschte, du könntest bei mir sein.«
Vanessa zog ihre Hand nicht weg. Stattdessen blickte sie Justinins Gesicht – sie sah seine schräg stehenden, ebenmäßigen Augenbrauen, die harte Linie seines Kiefers, seine blauen Augen –, als ob sie ihn zum ersten Mal sähe. Sie schluckte, und die Worte waren heraus, ehe sie sie stoppen konnte. Und tief in ihrem Inneren wusste sie, dass sie die Wahrheit sagte:
»Ich bin ohnehin nie hergekommen, um zu tanzen.«
Epilog
Der Schnee wirbelte um Vanessas Füße und verfing sich in ihren Wimpern, als sie neben Justin über die Lincoln Center Plaza eilte. Justin hatte seine Hände tief in den Taschen seines Wollmantels vergraben, denn es war Ende November, die Woche vor Thanksgiving.
Vanessa blickte über ihre Schulter zurück, und ihr rotes Haar wehte ihr ums Gesicht. Eine Gruppe Touristen machte Fotos von sich neben dem Brunnen auf der Plaza, und verliebte Pärchen schlenderten auf der Straße Arm in Arm an ihnen vorbei und bewunderten die Schneeflocken. Vanessa und Justin stießen die schweren Glastüren des Balletttheaters auf und traten ein.
Eine Woche war vergangen, seit der Dämon sich Hildas Körper bemächtigt hatte. Keiner an der New Yorker Ballettakademie hatte erfahren, was geschehen war; nur dass Hilda und Josef die Schule noch vor dem Ende der Proben für den
Feuervogel
verlassen hatten – aus unerfindlichen Gründen. Es war ein Skandal, aber kein großer. Der Choreograf und seine Assistentin waren sowieso nie sonderlich beliebt gewesen.
Justin betrat ohne zu zögern den Probenraum im Kellergeschoss und schaltete das Licht an, aber Vanessa blieb an der Tür stehen. Die weißen Figuren waren noch immer auf die Wände gebannt. Die Stelle, wo Josefs lebloser Körper gelegen hatte, war leer, und der gewachste Boden war gefegt worden, nur die kreisförmige, verkohlte Stelle in der Mitte des Raums nicht, wo der Dämon sich Chloës bemächtigthatte. Dort, wo der Dämon in Hilda gefahren war, sah man nichts. Nicht einmal einen Fleck.
»Alles okay«, sagte Justin gleichmütig. »Es ist alles vorbei. Dir kann nichts mehr passieren.« Er streckte Vanessa seine Hand entgegen.
Vorsichtig machte Vanessa einen Schritt in den Raum hinein. Allein der Boden unter ihren Füßen ließ sie schon erschauern, doch sie setzte einen Fuß vor den anderen. Schließlich war sie eine Tänzerin.
Justin fasste sie am Ellbogen und führte sie zur Wand. Dabei achtete er darauf, die Stelle zu umgehen, wo Josef gestorben war, als läge er noch immer da und würde gleich wieder auferstehen. Justins Berührung beruhigte sie, und sie fühlte sich sicher. Sie zog ihren Mantel und die Wollstulpen aus. Darunter trug sie ein schwarzes Trikot und schwarze Tanzstrumpfhosen.
Sie sah sich die weißen Figuren, die in ihren Haltungen erstarrt waren, genau an. Sie waren größer, als sie sie in Erinnerung hatte. Vanessa zog
Weitere Kostenlose Bücher