Dance of Shadows
sich ihre Spitzenschuhe an und wickelte die Bänder eng um ihre Knöchel. Bevor sie zu tanzen begann, warf sie Justin einen nervösen Blick zu.
»Tu genau das, was wir besprochen haben, und dir wird nichts passieren«, sagte er freundlich. »Denk daran, ich bin in der Nähe.«
Vanessa nickte und wandte sich der weißen Figur an der Wand vor ihr zu. Sie war in einer
arabesque
erstarrt. Mit einer schnellen Bewegung erhob sich Vanessa ins
relevé
und ahmte die Haltung der Figur nach. Sie behielt sie bei und verbannte alle Gedanken aus ihrem Kopf, bis sie sich völlig schwerelos fühlte und nur noch die Gestalt auf der Wand im Kopf hatte. Sie stellte sich vor, sie würde in den Spiegel schauen und dort – weiß und leuchtend – sich selbst gespiegelt sehen.
Die Ränder der Figur begannen zu glühen, als würde sie von hinten angestrahlt. Die Farbe an den Beinen der Figur wurde brüchig,als ob sie verwittern würde. Dann lösten sich die Beine von der Wand, und der übrige Körper folgte, bis die leuchtende Figur vor Vanessa stand und ihre Haltung widerspiegelte. Vanessa schloss die Augen und wiederholte im Geiste drei Worte.
Wer bist du?
Sie wartete und blieb dabei in der gleichen Haltung. Ihre Muskeln brannten, aber dann hörte sie etwas. Ein dünnes Stimmchen, so leise wie der Wind.
Chloë Martin.
Unwillkürlich schwankte Vanessa, und ihr Standbein bebte. Sie fing sich gerade noch rechtzeitig und wandte ihr Gesicht der Wand zu, aber die leuchtende Silhouette des Mädchens war verschwunden, und auf der Wand sah man ihre Umrisse nur noch als glanzlose Farbschicht.
Vanessa wandte sich an Justin. »Sie hat mir ihren Namen gesagt.«
Während Justin ihn notierte, ging Vanessa weiter zur nächsten Figur, dann zur übernächsten und ahmte ihre Haltungen nach, bis sie zum Leben erwachten. Sie fragte jede nach ihrem Namen, und wo es möglich war, fragte sie auch noch mehr. »Sie sind tot«, sagte sie Justin, als sie ihm den letzten Namen –
Josephine Front –
genannt hatte. »Sie sind alle tot.«
Erschüttert standen die beiden da. »Wenigstens wissen wir nun Bescheid über ihre Schicksale«, sagte Justin.
Doch Vanessa war nicht zufrieden. Sie suchte die Wände nach der letzten Figur ab, die sie schon so viele Male gesehen hatte.
»Vanessa?«, sagte Justin. »Was hast du?«
»Sie ist nicht dabei«, murmelte Vanessa und drehte sich suchend im Kreis herum. »Die Figur, die wie Margaret aussah. Sie ist nicht mehr hier.«
»Was meinst du damit?«, fragte Justin verwirrt. Er betrachtete prüfend die Wand. »Die sehen für mich alle gleich aus.«
Vanessa erinnerte sich daran, dass er bei keiner der Figuren miterlebt hatte, wie sie zum Leben erwacht war. Er hatte ihre Gesichter nicht gesehen. Niemand außer ihr hatte sie gesehen.
Die Stimmen der Tänzerinnen, die nun endlich ihre Ruhe gefunden hatten, begleiteten sie den ganzen Tag, während sie und TJ ihre Sachen packten, um zu Thanksgiving nach Hause zu fahren.
Blaine ging in ihrem Zimmer ein und aus, und Steffie lümmelte sich auf TJs Bett und lackierte sich die Fingernägel, aber keiner von ihnen war besonders gesprächig. Alle vier hatten vereinbart, über das, was wirklich im Probenraum geschehen war, Stillschweigen zu bewahren, dennoch war ihnen allen nicht wohl dabei, die Wahrheit zu kennen.
Abgesehen von Anna Franko hatte sich keine der dreizehn Prinzessinnen an das erinnert, was vorgefallen war, und selbst Anna war sich nicht ganz im Klaren darüber.
»Es gibt Drogen und andere Formen von Beeinflussungen, die Leute wie Josef einsetzen können«, hatte Nicholas ihr gesagt. »Das macht die Leute zu Wachs in seinen Händen.«
»Wie bei Knetfiguren, meint er«, erklärte Nicola.
»Das hab ich schon verstanden«, sagte Steffie.
»Egal«, fuhr Nicholas unbeirrt fort. »Die dreizehn Prinzessinnen waren nicht sie selbst.«
Steffie durfte erst wieder in ihr Zimmer zurück, als der Abgesandte der Lyrischen Elite – ein Junge namens Enzo, der so aussah, als hätte er gerade mal das College hinter sich – Margarets Tagebuch vollständig abgeschrieben hatte. Sie hofften, darin Hinweise zu finden, wohin sie verschwunden war.
An jedem anderen Tag hätte Vanessa sich Zugang zu dem Zimmer verschafft und gefordert, jedes einzelne Wort von Margarets Tagebuch selbst zu lesen, aber das konnte jetzt warten. Sie war erschöpft,und sie wollte ihre letzten Augenblicke an der Schule mit den Freunden verbringen, von denen sie wusste, dass sie immer für sie da sein
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