Dancing Jax - 02 - Zwischenspiel
über seinem Bett. Marcus neben ihm war schon längst tief eingeschlafen. Lee rümpfte die Nase. Vom anderen Ende der Galerie drang ein merkwürdiger Geruch zu ihm herüber. Warum sprühte Marcus seine Turnschuhe nicht wie alles andere ein?
Lee schloss die Augen und murmelte die Worte aus Dancing Jax. Heute Nacht war die perfekte Gelegenheit, um etwas mitzubringen, das ein wenig anspruchsvoller und nahrhafter war als Äpfel. Das Obst heu-Morgen herzuschmuggeln, war ein enormes Risiko gewesen. Er war selbst überrascht, dass der Wachposten im Turm ihn nicht entdeckt hatte. Lee konnte auch nicht wissen, dass der Punchinello zu diesem
Zeitpunkt völlig gebannt auf den kleinen Bildschirm von Spencers Mediaplayer gestarrt hatte, nachdem er die ganze Nacht hindurch bereits fünf Western geguckt hatte.
Lee fühlte den vertrauten Schmerz im Herzen und die schneidende Kälte, die ihm entgegenwehte. Es hämmerte in seinen Ohren und sein Magen machte einen Satz, als würde er in bodenlose Tiefe stürzen …
Es war eine frostige Winternacht. Der Mond war eine wächserne Sichel, um die schwebende Eiskristalle in der eisigen Luft einen glitzernden Schein wie aus Diamantstaub zauberten.
Lee blickte fröstelnd auf. Auf dieses Wetter war er nicht vorbereitet. Sein Atem formte Wolken aus grauem Dunst, während er sich die Arme rieb, die eine Gänsehaut überzogen hatte. Zum Glück dauerte die benommene Orientierungslosigkeit, die sich immer einstellte, wenn er hier eintraf, nie lange an. Er schaute sich um und hoffte, irgendetwas wiederzuerkennen. Anscheinend war er auf einer Wiese gelandet. In der Ferne wuchsen zu seiner Linken die dunklen Umrisse von verdrehten kahlen Bäumen und hoch aufragenden Kiefern aus dem Boden und rechts von ihm standen große karge, zerklüftete Felsen. Vom Weißen Schloss oder dem Dorf war weit und breit nichts zu sehen. Er hatte noch immer nicht gelernt, wie er darauf Einfluss nehmen konnte, wo und wann er ankam. Bestimmt gab es irgendeine Möglichkeit, das zu kontrollieren.
»Du musst an deiner Technik feilen, du Anfänger«, sagte er zu sich. Er ging einen Schritt und sprang auf der Stelle wieder zurück. Sein Turnschuh war durch eine Schicht aus Eis gebrochen und jetzt voll schneidend kaltem Wasser.
»Jedes verfluchte Mal!«, grummelte er.
Als er die toten Gräser und Schilfrohre rings um ihn herum niedergetrampelt hatte, entdeckte er, dass er auf einem schmalen Streifen schlammiger Erde stand. Überall sonst war Sumpfwasser. Lees Fluchen ließ wogende Nebelschwaden in die Luft schweben. Er hatte nicht den blassesten Schimmer, wo in der Welt von Dancing Jax er gelandet war. Soweit er wusste, konnte er sich ebenso gut jenseits der dreizehn Berge befinden. Er versuchte, sich die Karte, die vorne im Buch abgedruckt war, vorzustellen. War dort irgendwo ein Sumpf eingezeichnet? Er konnte sich nicht erinnern.
Lee drehte sich um die eigene Achse und testete vorsichtig den Boden, bevor er den nächsten Schritt machte. Ein Stück weiter hinten schien er einigermaßen fest zu sein, also schlug Lee diese Richtung ein und tastete sich langsam durch das Moor. Zwar wusste er nicht, wohin er lief, aber solange der schlüpfrige und vereiste Pfad ihn auf festen, trockenen Untergrund führte, reichte ihm das völlig. Wenn er es bis zu den Bäumen und weiter schaffte, entdeckte er vielleicht etwas, das ihm bekannt vorkam. Lee hatte gehofft, heute Nacht ins Dorf schleichen und ein paar Laibe Brot vom Müller stehlen zu können. Da würden Maggie am Morgen sicher die Augen übergehen!
Der Mond stieg höher und schien so hell, dass er die Landschaft in gespenstisches Licht tauchte. Die einzigen Geräusche waren das trockene Rascheln der verdorrten Gräser und das gelegentliche Platzen und Gurgeln von Sumpfblasen, die jenseits der gefrorenen Ränder des Moors an die Oberfläche stiegen. Als Lee plötzlich ein grelles Kreischen über sich hörte, überschlug er sich vor Schrecken beinahe.
Als er aufblickte, erspähte er schwarze geflügelte Gestalten, die durch die Dunkelheit flatterten.
»Fledermäuse«, murmelte er. »Als wäre es hier nicht schon gruselig genug.« Er schaute ihnen hinterher und musste bitter schlucken, als er sah, worauf sie zuflogen. Er war teilweise hinter den Kiefern verborgen, daher hatte er ihn bisher nicht bemerkt. Doch nun sah er ihn, den einsamen Turm, der nicht allzu weit entfernt in die Nacht emporragte.
Trostlos und bedrohlich zeichnete sich seine Silhouette gegen den
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