Danke für meine Aufmerksamkeit: Roman (German Edition)
angeprobt worden waren, wurde das Stück gemeinsam gerockt. Für die notwendige Technik war ebenfalls gesorgt, es gab für die Sänger drei Mikros, und Boxen waren auch angeschlossen. Ich hatte schon viele Stille-Nacht-Heilige-Nacht-Absingungen erlebt, aber was die Kinder hier ablieferten, versetzte mich in einen vollkommen ungekannten Zustand. Zunächst wippte ich, hinter der Gardine am Fenster hatte ich einen guten Platz für mich gefunden, noch locker mit der rechten Hinterpfote, sehr bald darauf zuckten meine Hüften, bis ich dann, das muss ich so sagen, geschlossenen Auges abging wie ein Zäpfchen! Irgendjemand musste bemerkt haben, dass sich die Gardine kraft meiner Tätigkeit rhythmisch ausbeulte, jedenfalls stand ich plötzlich ohne Sichtschutz mitten im Raum, ruderte ekstatisch mit den Vorderbeinen, mit dem Hals aufwärts bängte ich head und mein Schwanz rumste im Takt gegen die Heizung.
Ich hatte zugunsten meiner musikalischen Betätigung überhaupt nicht bemerkt, dass jemand die Gardine zur Seite gezogen hatte, ich ging einfach steil. Dem Betrachter zeigte sich eine Maus, wie sie noch in keinem Fachbuch beschrieben worden war.
Gestoppt wurde ich erst vom abrupten Ende der Musik und dem sich direkt anschließenden tosenden Applaus.
In Schweiß gebadet hielt ich inne und realisierte erst verzögert, dass mir die letzten drei Minuten meines Lebens fehlten. Nein, ich muss es anders formulieren: Ich hatte diese drei Minuten sehr präsent. Sie stellten den ersten Rausch meines Lebens dar! Meine rituellen Waschungen hier mal beiseitelassend.
Im selben Moment segelte ich flach auf den Hinterkopf. Ich hatte mich einfach übernommen. Die Musik, der Applaus – mein Nervensystem war aufs Äußerste beansprucht worden.
Die Kinder kriegten sich gar nicht mehr ein, und so kam es zu tumultartigen Zuständen. Die ich aber lediglich in reduzierter Form wahrnahm, da ich doch sehr mitgenommen war. Das macht unsere Biologie, Ihre wie meine, ja sehr gut: Bei Überforderung schaltet sich irgendein Teil ab. Das kann mal das Gedächtnis sein mit freundlichen Lücken, mal sind es einfache Lähmungserscheinungen der Gliedmaßen, mal sieht man verschwommen, und zu guter Letzt gibt es den schlichten Fall, dass man alles vollspuckt. Das möchte man selbst am allerwenigsten.
Häufig prägt man damit Bilder, die beim Gegenüber zu bleibendem Respektverlust führen. Je nachdem, was man mit ihm aber für in die Zukunft reichende Vorstellungen hatte, sind genau diese damit an ein Ende gekommen.
Wo war ich gerade? Ich denk mich schon wieder fest.
Letztlich hat Herr Würfel die ganze Situation in die Hand genommen und in den Griff bekommen. Jetzt möchte ich sofort ein Gedicht schreiben. Ich bin heute sehr ablenkophil.
Herr Würfel, um an dieser Stelle zum dritten Mal anzusetzen, war derjenige, auf dessen Hand ich wieder vollkommen zu mir fand und der zum Abschluss der Musikstunde alle Kinder für mich a cappella singen ließ. Irgendetwas von Mouse on Mars.
Die Fahrradfahrt zu Paul nach Hause tat mir gut, dahinten auf dem Gepäckträger. Er fuhr vorsichtig, wahrscheinlich, weil er wusste, dass ich noch etwas Zeit brauchte für die Rückkehr in den Alltag.
Pauls Kopf qualmte.
Das erfreuliche Schulerlebnis lag einige Stunden zurück, ich hatte mich wieder vollkommen im Griff, und Grund für den Qualm, den Paul ausstieß, war die Beschäftigung mit dem Fach Deutsch. Paul saß an seinem Schreibtisch und litt daran, dass lange vor ihm andere bestimmt hatten, wie die Begriffe in der deutschen Sprache zu schreiben seien.
»Mannmannmann! Ich bin ein Idiot! Wieso pinkel ich nicht ins Bett wie der Malte oder stottere, nee, der behämmerte Paul ist Legastheniker, super, der schreibt mit vierzig Weihnachten noch mit F, herzlichen Glückwunsch!«
Ich hatte aus der Dienstagsgruppe in Erinnerung, dass es für alle, auch für Paul selbst, ein Riesenspaß war, wenn sie zusammen das Spiel spielten: Was meint Paul? Aber wenn er so allein über seinen Aufgaben saß, schien Paul all das gar nicht so lustig zu finden.
»Ein Idiot bist du überhaupt nicht! Du hast mir gesagt, dass du alle Tests gut gemacht hast, also bist du genauso schlau wie alle anderen, nur eben dein Gehirn und Buchstaben, da passt irgendwas nicht zusammen«, versuchte ich ihn zu trösten.
»Jaja, spar dir das Gelaber. ›Du bist genauso schlau wie alle anderen‹«, äffte er mich nach. »Da merkt aber keiner was von, wenn ich was auf ’nen Zettel schreib. Und
Weitere Kostenlose Bücher