Danke für meine Aufmerksamkeit: Roman (German Edition)
bescheuert, ich sag Sachen, die meine ich gar nicht: Ich meine überhaupt absolut gar nicht, dass du doof bist, das hab ich einfach so runtergeplappert! Das war doof, wenn du genauer wissen willst, was doof ist.« Paul war, wie ich das bisher bei wirklich jedem Kind hatte erleben können, sofort versöhnt. Ich merkte, dass er dafür die Kränkung erst noch ein kleines bisschen abschütteln musste, dann hob er die Hand und sagte: »Give me five!«
Dabei flog ich dann doch noch vom Schreibtisch. Als ich oben wieder ankam, hatte ich eine bahnbrechende Idee:
Paul und ich würden herausfinden, wie man erreichte, dass Legastheniker in Zukunft keine schriftlichen Arbeiten mehr abgeben mussten, sondern stattdessen Tonbandaufnahmen gleichwertig behandelt würden. Dafür müsste man doch bestimmt einen Antrag stellen können. Bei der Schulbehörde, in der ich übrigens einen leitenden Beamten kannte, fiel mir gerade wieder ein. Ich hatte mal ein paar Wochen im Schulamt der Stadt genächtigt. Und des Tags häufigeren Austausch mit einem sehr netten Dezernenten gehabt. War das der Dezernent gewesen? Oder war der noch Dezernent, oder würde der bald Dezernent werden? Jedenfalls hatte der immer dagesessen, war wichtig gewesen – und nett. Das waren die Wichtigen ja oft nicht. Beziehungsweise, die, die direkt vor den Wichtigen saßen, die waren meist die Fiesen. War man mal zu einem Wichtigen vorgedrungen, dann ging es schon wieder. So hatte ich das in den Wochen meines Aufenthalts dort beobachten können.
Ach, und wenn das mit meinen Kontakten zur Schulbehörde nicht klappte, dann könnte man doch bestimmt eine Petition einreichen.
Der Junge brauchte eine Aufgabe, das war jetzt klar. Und zwar nicht, auf Wörter zu starren und herauszufinden, ob die richtig oder falsch geschrieben waren.
Ich würde Paul und bestimmt auch die ganze Dienstagsgruppe dafür gewinnen, dass sie bei der Aktion, die ich im Kopf bereits »Free Legasthenics« nannte, mitmachten!
Liebe Menschen! Jetzt muss ich mal etwas dazwischenschieben.
Mich hat es ja total geflasht! Ich schätze derlei Ausdrücke absolut nicht, aber ich wusste mir gerade nicht anders zu helfen:
Ihr Weihnachtsfest! Ja, was ist denn da los bei Ihnen?!
Ich hatte das in den Jahren zuvor natürlich durchaus schon miterlebt, überall Lämpchen, leuchtende Fenster, noch mal Lämpchen, noch mehr leuchtende Fenster, Fassaden erklimmende Weihnachtsmänner, leuchtende Fenster, Lämpchen und vieles mehr – und leuchtende Fenster.
Aber in diesem Jahr konnte ich das im Schoße einer weihnachtsbemühten Familie miterleben, und ich kam zu interessanten Schlussfolgerungen. Aus folgenden Punkten setzt sich meiner Beobachtung nach in den überwiegenden Haushalten Ihr Weihnachtsfest zusammen:
Punkt eins: »Das machen wir schon immer so.«
Punkt zwei: »Da muss man sich eben mal zusammenreißen.«
Punkt drei: »Das können wir der Oma/dem Opa nicht antun.«
Punkt vier: »So mach ich das kein Jahr länger mehr.«
Punkt fünf: »Nächstes Jahr wird sich aber nichts mehr geschenkt.«
Punkt sechs: »Ich dachte, wir wollten uns nichts mehr schenken.«
Ich hoffe, ich rekonstruiere in der nun folgenden Reportage die Ereignisse richtig. Für die Familien Jansen, Jentsch und Becker, von denen Sie zum jetzigen Zeitpunkt durch mich noch keine Innenansicht gewinnen konnten, nehme ich die authentischen Berichte der Dienstagsgruppenteilnehmer zu Hilfe.
Die Familie Weller verbrachte die Weihnachtstage 24., 25., 26.12. bei Sonja Wellers Eltern im Hunsrück, wo sie auf Sonjas Geschwister und deren Familien trafen, die sie, jeden auf seine Weise, alle nicht mochten. Auf der Gegenseite verhielt es sich ebenso. Jeder Teilnehmer dieses Arrangements betrat am 24.12. die festlich geschmückten Räume des Nichtmögens und mochte sich am 26.12 selbst nicht mehr. Polly wiederum freute sich auf zwei Cousins, die, so ihre Aussage, ganz okay waren. Im Kinderzimmer mit Kerzen herumkokeln, den Erwachsenen Reste vom Weihnachtsmahl auf Kissenhöhe unter das Laken stopfen, im Keller die Hanteln vom Opa ansägen, all dies ging wohl recht gut miteinander. Zur Familie von Roland Weller pflegte Sonja Weller keinen Kontakt mehr, der Einfachheit halber Roland dann auch nicht mehr, was die Reisetätigkeit zur Weihnachtszeit deutlich reduzierte.
Beinahe bis ins Detail genauso verbrachten auch die Familien Jansen mit Ben und die Blendows mit Paul und Anna diese Tage.
Mit dem einen Unterschied, dass Vater Blendow
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