Danke für meine Aufmerksamkeit: Roman (German Edition)
nur ein winziges bisschen, also, allerhöchstens einmal mit ihr über Rico ausgetauscht. Aber Mara strahlte eine solche Diskretion aus, dass selbst ich als Betroffene mir schon allein beim Gedanken daran wie ein Klatschweib vorkam. Mit Mara war man einfach nur beisammen.
Das war für mich als äußerst kontaktfreudige Maus eine echte Herausforderung. Das heißt, nein, an Kontakt mangelte es gar nicht. Mara nahm mich häufig auf den Arm und kitzelte mich durch, nicht selten schenkte sie mir ein Grinsen, und von ihren Marshmallows gab sie mir stets die Hälfte ab. Ich kann also nicht sagen, da sei kein Kontakt gewesen. Sie versorgte mich nur nicht mit Text. Und ich staunte nicht schlecht darüber, wie angewiesen ich darauf war, dass einer mit mir sprach.
Ich bin wirklich niemand, von dem Sie sagen würden: Man kann so gut mit ihr schweigen. Bin ich nicht, kann ich nicht, hab ich nicht drauf.
Vielleicht war ich einfach zu glücklich darüber, dass ich mich aus der Beschränktheit des ewigen Fiepfiep befreit hatte, denn es fiel mir wirklich schwer, zu verstehen, warum einer seine Sprache nicht nutzte.
Ich hatte sie mir ja schließlich als Extraleistung draufgeschafft, und Mara hatte sie umgekehrt für sich extra abgeschafft. Beinahe abgeschafft. Denn ab und zu äußerte sie natürlich doch mal einen Satz. Den man dann nicht verpassen sollte:
»Wer zu spät kommt, ist der Arsch.« Damit hatte sie zum Beispiel einmal ihre siebzehnjährige Schwester Lara begrüßt, die zum wiederholten Male qua Verspätung das gemeinsame Abendessen verpasst hatte.
Jetzt horchen Sie auf, ich weiß. Diesen Satz meinen Sie von Michail Gorbatschow zu kennen, der sich seinerseits zwar etwas poetischer geäußert, im Ergebnis aber das Gleiche gemeint hat. Urheberin dieses kompakten Gedankens ist jedoch Mara Becker.
Ach, du liebe Güte! Jetzt machen Sie doch nicht so ein Geschrei! Ich wusste es. Ich wusste, dass Sie jetzt ein Riesenfass aufmachen, dass der Gorbatschow das doch schon viel früher gesagt habe! Und zwar am 7. Oktober 1989, und zwar in Ostberlin! Und dass es damals die kleine Mara Becker ja noch gar nicht gegeben habe!
Na gut.
Ich hatte gehofft, Sie würden es mir ersparen, Sie nun leider beschämen zu müssen, indem ich die Dinge, so scheint es, wohl ein bisschen besser in die Reihe bringe als Sie.
»Trudnosti podsteregajut tech, kto ne reagirujet na shisn.«
Das, liebe Leute, waren Gorbatschows Worte! Und mitnichten heißen sie: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. In diesem Sinne hat sich bisher nur Mara Becker ihrer Schwester gegenüber zu Wort gemeldet. Herr Gorbatschow sagte zu Deutsch: »Schwierigkeiten lauern auf den, der nicht auf das Leben reagiert.«
Und nun erklären Sie mir bitte einmal, welche elfjährige Schwester mit solchen Worten ihre verspätete große Schwester empfangen würde. Sie können sich also wieder einkriegen, Mara hat selbstverständlich nicht bei Michail Gorbatschow abgekupfert!
Ich hatte schon wieder einen Termin, nach dem sich weltweit alle ganzjährig die Finger leckten: Elternsprechtag.
Da ich mich immer noch in der Mara-Woche befand, durfte ich mit Mara und ihrer Mutter die einzelnen Lehrer aufsuchen, die in ihrem Interesse, in der Freundlichkeit und in ihrer Amüsierbereitschaft ein sehr unterschiedliches Bild abgaben.
Beim Gespräch mit dem Sportlehrer Jägers musste ich draußen warten, da der Herr sich persönlich vereimert fühlte, dass eine Maus auf Maras Schulter der Unterhaltung folgen wollte.
Ich blätterte also zum Zeitvertreib draußen vor der Tür in einem Buch von Wolfgang Borchert, das dort in der provisorisch eingerichteten Warteecke herumgelegen hatte.
Natürlich werden bei Elternsprechtagen die meisten Kinder zur Deutschlehrerin gebeten, und so standen wir, ich hatte es bis auf Seite 5 von Herrn Borcherts Veröffentlichung geschafft, alle drei wenig später vor Frau Dörrlein. Die Lektion, die ihr die Kinder in der vergangenen Woche erteilt hatten, war ihr durchaus anzumerken. Das äußerte sich darin, dass sie vom Eintreten bis zur Verabschiedung bemüht war, sich in Blickkontakt mit einem von uns zu begeben. Wie das mit allem ist, was man sich gerade ganz neu aneignet, tat sie sich damit noch etwas schwer. Das bekam am meisten ich zu spüren, weil sie sich überwiegend in meinen Augen festkrallte, wenn sie über Mara sprach. Aber immerhin.
Herr Würfel, den ich aus der rauschhaften Musikstunde noch in bester Erinnerung hatte, äußerte sich
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