Dann fressen sie die Raben
Fall hergeben.
Die Gestalt, von der ich nur die Augen sehen kann, gibt knurrende Laute von sich und zischt: »Still!« Sie schlägt mich wieder ins Gesicht. Aber ich kämpfe und schreie weiter.
Ich höre Geräusche von oben, mein Angreifer stutzt, dann lässt er mich so plötzlich los, dass ich hart auf den Rücken zurückfalle. Er rast die Treppen hoch, ich versuche, mich aufzurappeln und ihm zu folgen, aber mir wird wieder schwindelig und ich bleibe, wo ich bin.
»Was ist denn hier los?« Ich höre ein Murmeln, dann flammt das Licht endlich auf. Eine dicke Frau in einem verwaschenen petrolfarbenen Jogginganzug kommt die Treppen herunter und schüttelt den Kopf. »Wer war das denn? Und was ist mit Ihnen passiert? Ich sage der Hausverwaltung schon seit Wochen, dass sich im Keller Junkies rumtreiben, aber mir glaubt ja keiner.« Jetzt mustert sie mich misstrauisch. »Wer sind Sie eigentlich?«
Ich erkläre ihr, dass ich Ruby Wagner bin, die Tochter von Katja Brandt, woraufhin sie sofort wieder freundlich wird und mir ihre Hand hinhält, um mir aufzuhelfen.
»Oh natürlich, du musst die kleine Schwester von Lina sein«, sagt sie. »Komm, ich helfe dir.«
Ich versuche, mich zusammenzunehmen, aber meine Beine zittern und der Schmerz breitet sich vom Steißbein in den Rücken aus. Tränen steigen mir in die Augen, mein Herz rast, aber gleichzeitig bin ich unglaublich froh, dass ich den Schlüssel noch habe.
»Kindchen, jetzt kommst du mit in meine Wohnung, ich mache dir einen schönen Tee und dann sehen wir weiter.«
Ich stolpere hinter der dicken Frau nach oben und kann immer noch nicht fassen, was mir gerade passiert ist.
Meine Retterin wohnt im Erdgeschoss. Ich kann ihr Alter nicht recht einschätzen, ihre welligen kurzen Haare haben schon einen Grauton, aber ihr rundliches Gesicht ist völlig faltenfrei. »Ich rufe die Polizei, du musst Anzeige erstatten und ins Krankenhaus. Ich bin übrigens Gaby Vogel.« Sie entsperrt ihre grüne Wohnungstür, hinter der ein Schäferhund sie offensichtlich sehnsüchtig erwartet hat. Wir kommen kaum durch die Tür, weil sich rechts und links im Gang alte modrig riechende Zeitungen bis zur Decke stapeln. Auch am Boden stehen Kisten und Tüten herum. »Ist schon gut, Leon, ist schon gut. Los, rein mit dir.«
Sie stellt mir ihren Hund Napoleon vor, als wäre er ein Mensch. Dann geht sie voraus in eine zugemüllte Küche und stellt Wasser in einem Wasserkocher auf. Das Spülbecken ist die einzige freie Fläche in diesem Raum. Gaby Vogel umgeht diverse Stapel mit undefinierbaren alten Sachen, verschwindet im Gang und kommt mit dem Telefon in der Hand wieder zurück.
»Bitte nicht, auf keinen Fall«, stammele ich.
Frau Vogel starrt mich verständnislos an. »Warum denn nicht?«
»Weil meine Eltern gerade so viele andere Probleme haben.« Dann erzähle ich ihr von Lina und fange an zu weinen, was dem Hund offensichtlich auch leidtut, denn er beginnt, fürchterlich zu jaulen.
»Ruby, das mit deiner Schwester ist wirklich schrecklich, aber bitte reiß dich zusammen, Leon kann es nicht leiden, wenn Frauen weinen.« Frau Vogel sieht sich suchend in der Küche um. Dann greift sie in eine Tasse, fischt zwei schon benutzte Teebeutel heraus, verteilt sie auf zwei Becher und brüht sie mit dem kochenden Wasser auf. »Ich habe ihn aus dem Tierheim, er ist ein bisschen schwierig.« Sie schaut mich kopfschüttelnd an. »Wenn du darauf bestehst, werde ich die Polizei nicht rufen, obwohl ich das nicht richtig finde. Schau dir an, wie du aussiehst. Diesen Typen muss das Handwerk gelegt werden.«
»Haben Sie ihn sehen können?«, frage ich.
Frau Vogel schüttelt den Kopf. »Leider nein, Kindchen, es war ja noch dunkel. Er hat mich noch gestreift, aber mehr weiß ich leider nicht.« Sie reicht mir die Teetasse, der Tee riecht nach altem Hund. »Hier, trink das, dann wird es dir besser gehen. Willst du einen Keks?« Frau Vogel sucht in den zahllosen Stapeln nach einer Schachtel Kekse, wird tatsächlich fündig und überreicht sie mir strahlend. Auf der offenen Schachtel ist eine so dicke Staubschicht, dass ich Igitt mit dem Finger hineinschreiben könnte. Aber Frau Vogel schaut mich erwartungsvoll an und ich schäme mich, schließlich hat sie mich gerettet und ich werde nicht unhöflich sein. Also nehme ich einen Keks, er zerbröselt sofort in meinem Mund und schmeckt so, wie ich mir den feinen alten Sand in Vogelkäfigen vorstelle. Ich unterdrücke ein Husten und würge die jetzt breiige
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