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Dann fressen sie die Raben

Dann fressen sie die Raben

Titel: Dann fressen sie die Raben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beatrix Gurian
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Nacht, wellig, wie der Wattboden bei Ebbe, die Nägel weich, aber er bemerkt es kaum, weil sein Herz zerrissen und seine Seele angefüllt ist von Trauer und Zorn.
    Als er gehen will, nähert sich der Chef im weißen Kittel, befiehlt ihm, noch zu bleiben, aber er kann nicht. Nicht heute. Heute hat er Wichtigeres vor. Als er sich weigert, hebt der Chef die Hand, wie um ihn zu schlagen, doch dann zuckt er nur die Schultern und versichert ihm, dass er nicht zurückzukommen braucht.
    Er versucht, mit dem Chef zu reden, verspricht, jemand anderen zu schicken, jemand Guten, aber der Weißkittel will ihn. Nur ihn, denn er ist der Beste auf diesem Gebiet.
    Sein Gebiet. Beinahe hätte er gelacht, früher hätte er gelacht. Er spricht fünf Sprachen fließend, dieser Weißkittel kann nicht einmal richtig Deutsch. Aber er hat Macht. Alle hier haben Macht. Nein, er verbessert sich selbst, er ist es, nein, sie sind es, die ihnen diese Macht einräumen, und das ist der Grund, warum er dem ein Ende setzen muss. Genau deshalb muss er sie kriegen.
    Sie ist der Schlüssel zum Sieg oder zum Untergang.
    Ein Untergang, der sie alle treffen würde.
    Und jetzt muss er sich beeilen, der Tag dämmert schon, er darf nicht zu spät kommen. Doch seine Beine sind erschöpft von der Arbeit der Nacht und er kommt nur langsam vorwärts. Kimoni, sagt er sich, und schon geht es schneller, auch wenn er sich auf die Zunge beißen muss, um den Schmerz zu beherrschen. Kimoni, Kimoni, Kimoni, flüstert er, und wie von einem bösen Zauber beflügelt, schafft er es gerade noch rechtzeitig zu ihrem Palast, wo er sich wieder auf die Lauer legt.
    Diesmal wird sie ihm nicht entkommen.

8. Kapitel
    Stumm sitzen wir drei beim Frühstück. Heute bin ich froh, dass Mam und Oliver Morgenmuffel sind und schweigend ihr Müsli löffeln. Meine Rühreier-, Speck- und frisch gepresste Säfte-Frühstücksorgien mit Pa kommen mir vor wie aus einem anderen Leben, einem Kinder-Nutella-Leben. Pa merkt immer sofort, wenn mit mir etwas nicht stimmt, zumindest war das früher so, bevor die Sache mit Lina passierte. Seitdem ist er so außer sich, dass ich ihn vielleicht auch täuschen kann.
    Ich habe im Spiegel die blauen Flecken am Hals gesehen, mit etwas Glück würden sie als Knutschflecken durchgehen. Zur Sicherheit trage ich noch ein Halstuch. Mein Po ist an einigen Stellen tiefschwarz und sieht aus, als hätte man mich verprügelt. Nur gut, dass ich heute keinen Sportunterricht habe.
    Ich betrachte meine Mutter und dann Oliver. Es kommt mir so vor, als wären sie tief in ihren eigenen Gedanken versunken, und plötzlich macht mich das rasend.
    »Liebt ihr Lina eigentlich?«, frage ich in die Stille.
    Mam verschluckt sich, Oliver schüttelt den Kopf.
    »Was soll denn das?«, fragt Mam und schaut fragend zu Oliver.
    »Ich habe nicht den Eindruck, dass ihr sie vermisst.«
    »Es steht dir nicht zu, so etwas zu sagen! Du hast ja keine Ahnung!« Oliver haut mit der Faust so fest auf den Tisch, dass die Milch aus den Müslischalen schwappt.
    »Oliver, nicht, das Kind ist doch nur verwirrt.« Mam hat Tränen in den Augen und lächelt mir trotzdem zu. Ich fühle mich mies. Aber ich kann auch nicht aufstehen und zu ihr hingehen und den Arm um sie legen. Es geht einfach nicht.
    Stattdessen läuft Oliver zu ihr hin und tätschelt ihr den Rücken. »Es wird wieder, Katja.«
    »Schon gut.« Sie sucht meinen Blick.
    »Ich glaube nicht, dass Lina Selbstmord begangen hat«, sage ich fest. »Ich denke, man hat ihr etwas angetan. Und ihr wisst darüber etwas und verschweigt es mir.«
    Oliver schaut wieder zu Mam, die beiden schütteln ihre Köpfe, synchron wie Marionetten im Wiederholmodus.
    »Wie kommst du nur auf solche Gedanken?« Mams Stimme klingt schrill. »Wer sollte Lina denn ermorden wollen? Hat dir dein Vater diesen Unsinn eingeblasen?«
    Typisch. Ich stehe wortlos auf und räume mein Geschirr in die Spülmaschine. Dann schnappe ich mir meine Jacke und meine wenigen Schulsachen, murmele ein leises »Tschüss!« und ziehe die Tür hinter mir zu. Sie machen nicht einmal den Versuch, mich aufzuhalten.
    Ich renne die Treppen runter, stolpere fast über Frau Vogel und ihren Hund, entschuldige mich und renne weiter. Das Rennen tut gut und ich stürme weiter zur U-Bahn. Als ich im Zwischengeschoss bin, sehe ich gerade noch, wie mir die Bahn vor der Nase davonfährt. Ich gehe langsamer die restlichen Treppen hinunter. Hinter mir keucht jemand genauso wie ich. Neugierig drehe ich mich um und

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