Dann fressen sie die Raben
schaue in das unbewegte Gesicht einer jungen Frau mit einem Baby vor der Brust. Ich lache sie an, aber sie sieht durch mich hindurch.
Schon nach kurzer Zeit warten wieder viele Leute auf die Bahn und ich habe das deutliche Gefühl, dass mich jemand beobachtet. Oder bilde ich mir das nur ein, nach dem, was ich gestern erlebt habe? Neben der Frau mit dem Kind sehe ich eine Gruppe halbwüchsiger Kapuzenpulliträger, einen großen Afrikaner und zwei schlecht gefärbte Blondinen, die sich auf Russisch unterhalten. Vielleicht gehen die Kapuzenpullis in meine Schule und reden über mich?
Aber dann entdecke ich tatsächlich ein bekanntes Gesicht: Schwester Samira aus dem Krankenhaus. Sie schaut nicht zu mir herüber, sondern telefoniert gerade. Ich überlege, ob ich zu ihr hingehen und sie begrüßen soll, aber da fährt schon die nächste U-Bahn ein, und obwohl viele Leute aussteigen, ist sie so voll, dass man eng aneinandergepresst stehen muss. Dauernd werde ich geschubst. Mein Rucksack ist immer im Weg, egal, wie ich mich hinstelle. Schließlich nehme ich ihn ab und merke erst jetzt, dass der Reißverschluss der einen Tasche offen steht. Mit einem Kopfschütteln schließe ich ihn wieder. Ich hätte schwören können, dass er zu war. Offensichtlich bin ich mehr durcheinander, als ich dachte.
Heute werde ich Gretchen nach Lina ausquetschen. Ich habe gestern noch ein paar andere Mädchen nach meiner Schwester gefragt, aber so richtig gut gekannt hat sie offensichtlich dann doch niemand, denn alles, was da kam, war völlig nichtssagend. So nach dem Motto, dass Lina echt nett war oder cool und immer so hippe Secondhandklamotten anhatte, dass sie ziemlich witzig war und auch in der letzten Zeit wäre sie eigentlich wie immer gewesen. Da war Gretchen gestern viel ehrlicher und irgendwie klingt Bitch für mich auch so, als gäbe es eine interessante Geschichte dazu. Ich bin sicher, sie weiß mehr über Lina als die anderen, schließlich kann es doch nicht sein, dass Lina in einer Luftblase gelebt hat, über allen schwebend.
Als ich aus der U-Bahn komme, regnet es. Kleine, eiskalte piksende Tropfen. Frühling ade. Wieder habe ich den Eindruck, dass jemand mich anstarrt, aber als ich mich umdrehe und nach den Kapuzenpullovertypen schaue, ist keiner von ihnen zu sehen. Hinter mir trödelt nur eine Horde Mädchen, die sich kichernd gegenseitig etwas auf ihren Handys zeigen. Handy, verdammt, ich brauche Linas Handy. Und ich habe in meiner Wut vergessen, Mam heute Morgen danach zu fragen.
Plötzlich hält ein Auto neben mir und hupt. Es ist ein schwarzer BMW-Sportwagen mit dunklen Scheiben, die alles dahinter verbergen. Ich kenne niemanden, der so ein Auto fährt, gehe also weiter und schaue stur geradeaus. Solche Autos fahren außer James Bond nur noch Zuhälter und Politiker. Der Autofahrer gibt nicht auf, er hupt wieder und ich sehe aus den Augenwinkeln, wie das Fenster langsam heruntergefahren wird. Dann streckt Dennis seinen Kopf heraus. Er winkt mir zu. »Komm, ich nehme dich mit, bei dem Sauwetter.«
Die Mädchengruppe hinter mir schaut interessiert zu und ich steige ein, bevor noch mehr Leute gaffen.
»Wow! Du fährst ja ein teures Auto«, entfährt es mir, während ich mich anschnalle und dabei an Pas uralten klapprigen Volvo denke.
»Die Karre gehört meinem Vater.«
Das muss ja dann wohl Dennis Wallenstein senior sein, denke ich gereizt, weil mir sein Getue auf die Nerven geht. Aber er scheint es nicht zu bemerken, denn er redet fröhlich weiter. »Der Alte macht wahnsinnigen Reibach mit seiner Putzfirma und ich darf mir die Karre heute nur ausleihen, weil er eine Wette verloren hat.« Dennis lacht sein jungenhaftes Lachen. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie viel Spaß das bringt.«
»Ja, ganz bestimmt.« Ich verkneife es mir, mit den Augen zu rollen.
Dennis grinst immer noch. »Du denkst jetzt sicher, mir wären Autos wichtig, oder?«
»Exakt«, sage ich gedehnt.
»Falsch. Aber es gefällt mir, wenn sie in der Schule über mich reden. Okay, ja, das ist ein bisschen eitel, aber so bin ich halt.« Er lacht verschmitzt und sieht leider unwiderstehlich aus. »Deshalb leihe ich mir manchmal auch ein Auto vom Hausmeister aus, einen total fertigen Honda Civic in Kackbraun, das bringt die Leute erst recht ins Spekulieren. Hey, ich würde an dieser Schule sonst sterben vor Langeweile.« Jetzt dreht er sich gefährlich lange zu mir und schenkt mir ein treuherziges Grinsen.
Wegen dieses Blicks muss er an der nächsten
Weitere Kostenlose Bücher