Dann fressen sie die Raben
zu und hole es raus. Es ist eine zusammengeknüllte Seite aus der Bildzeitung. Mein Herz fängt an zu rasen. Wie kommt das in meinen Rucksack?
Mir fällt die U-Bahn-Fahrt ein – mein Rucksack und die offene Vordertasche.
Jemand hat das in meinen Rucksack geschmuggelt, es ist sicher nicht einfach so dorthin geflogen. Also hab ich mir in der Bahn nicht nur eingebildet, dass mich jemand beobachtet.
Mir ist, als hätte ich gerade einen Medizinball in den Bauch bekommen. Erst die Sache im Keller. Und jetzt das.
Jemand verfolgt mich, so viel ist klar. Aber wer? Mit zitternden Fingern glätte ich den kleinen Ball und überfliege ihn. Es ist ein Bericht über die Champions League, Fußball. Enttäuscht drehe ich die Seite um, auch Fußball. Aber dann, beim zweiten Hinsehen, entdecke ich es, ein Wort ist mit Bleistift umkringelt. Napoleon. Ich lese den Satz, er ist nicht vollständig. » … gebärdet sich auf dem Feld wie der wiedergeborene Napoleon.«
Ich habe das Gefühl, ich müsste wissen, was das bedeuten soll, aber mein Hirn weigert sich, es ist genauso erstarrt wie der Rest von mir.
Was weiß ich über Napoleon? Er war klein und ein Despot. Was kann das bedeuten? Los, denk, Hirn, feuere ich mich an, denk einfach nach. Aber auf keinen der Männer, die ich kenne, passt diese Beschreibung. Mein Stiefvater ist groß und Alex auch. Oder soll ich aus diesen Namen ein neues Wort bilden und ergibt das dann Sinn? Glaubt vielleicht jemand wirklich, ich wäre der Einstein der Familie? Also, was kann man mit dem Wort alles bilden? Leon, Pol, Plan, Lena, Polen, Pan, Panne, Anne, Onno, Ale, an, no, hmm, no Plan an Lena. Unsinn. Völliger Blödsinn. Ich nehme den Bleistift und probiere es weiter und da erinnere ich mich wieder daran, warum ich den Rucksack eigentlich geöffnet habe, und fange an, über das Weggekratzte drüberzuschraffieren, und dabei denke ich fieberhaft weiter nach, was Napoleon wohl bedeuten könnte.
Langsam nimmt die schraffierte Fläche Gestalt an. Das, was da vor mir entsteht, sind zwei Symbole. Das eine ist ein Stab, um den sich eine Schlange windet, das Zeichen, das neben Olivers Namen auf dem Klingelschild steht. Der Äskulapstab, das Symbol der Ärzte. Und das darunter ist einfach nur ein @-Zeichen.
Beides für sich genommen absolut harmlos.
Aber es muss doch eine Bedeutung haben. Sonst hätte es Lina nicht vom Tisch abgekratzt.
Oliver ist Arzt. Und ihr Stiefvater.
Und dann fällt mir etwas ein. Wenn das Arztzeichen für Oliver steht, dann bedeutet das @-Zeichen vielleicht Dad? Auch wenn sie Oliver immer nur beim Vornamen genannt hat, würde das Sinn ergeben.
Andererseits, würde ein Arzt jemanden umbringen? Oder Anlass für einen Selbstmord geben? Ja, warum auch nicht? Und – jetzt stellen sich mir alle meine Haare auf, ein Arzt könnte dafür sorgen, dass man auch wirklich stirbt.
Ich kann kaum noch schlucken, als mir klar wird, dass Lina auf Olivers Station liegt. Dort ist sie ins Koma gefallen, nachdem sie doch angeblich schon über den Berg war. Und wie bleich und nervös Oliver herumgestottert hat, als ich wissen wollte, wie das passieren konnte! Nur mal angenommen, er hätte sie missbraucht und sie wollte sich das nicht länger gefallen lassen und ihn anzeigen?
Sein Leben als Arzt wäre dann vorbei.
Okay, damit hätte er ein Motiv. Zugang zu ihrem Zimmer hatte er sowieso und vor allem hatte er die Kontrolle über ihr Leben.
Und Lina war völlig verängstigt, als sie gesagt hatte: Schenk ist hier.
Oliver war im Zimmer.
Ich muss sofort ins Krankenhaus. Ich melde mich und sage Frau Paul, dass mir schlecht ist und ich nach Hause gehen möchte. Offensichtlich sehe ich so aus, wie ich mich fühle, denn Frau Paul ist voller Mitleid und entlässt mich ohne weitere Nachfragen.
Ich packe den Zeitungsartikel in meine Hosentasche und stolpere nach draußen, renne zur U-Bahn, renne, so schnell ich kann, plötzlich davon überzeugt, dass Lina in allerhöchster Gefahr ist, renne die Stufen runter zum Bahnsteig, schubse mir den Weg frei und bete um eine schnelle Verbindung.
9. Kapitel
Erst eine ewig dauernde halbe Stunde später bin ich im Krankenhaus, spurte auch dort die Stufen hoch, weil ich Angst habe, der Aufzug könnte stecken bleiben, und komme völlig außer Atem bei Lina an.
Durch die Glastür sehe ich, dass jemand bei ihr ist.
Es ist Pa.
»Gott sei Dank!« Ich möchte am liebsten durch die Tür rennen und mich in seine Arme werfen, aber das würde ihn schockieren und er sieht
Weitere Kostenlose Bücher