Dann fressen sie die Raben
Ampel eine Vollbremsung machen, die mich fest nach vorne in den Gurt schleudert. Dabei spüre ich schmerzhaft die blauen Flecken am Hals und am Po. »Aua.«
»Entschuldige bitte, meine Schuld. Na ja, auch ein bisschen deine, dein Lächeln ist so süß, da kann man nicht wegschauen.«
Jetzt rolle ich tatsächlich mit den Augen, aber er kümmert sich nicht darum. »Wie geht es Lina?«, fragt er und wird unvermittelt ernst.
»Geht«, antworte ich knapp. Ich möchte jetzt nicht über Lina sprechen.
»Alex hat mir erzählt, du suchst nach ihrem Handy? Und, fündig geworden?«
Ich schüttele den Kopf und mir fällt ein, dass ich gar nicht weiß, woher sich die beiden kennen. »Gehst du eigentlich mit Alex in einen Jahrgang?«, frage ich nach.
Dennis nickt. Gleich darauf fährt er mit quietschenden Reifen auf den Schulparkplatz und steigt aus.
Gretchen stürzt auf uns zu und Alex läuft hinter ihr her.
»Hi, Dennis«, sagt sie. »Der ist ja schick. Mein Vater fährt auch so einen.«
»Ich weiß, Gretchen, und du kriegst sicher auch bald einen. Oder, was meinst du, Dennis?«, fragt mein Stiefbruder spöttisch.
»Dazu müsste ich im Lotto gewinnen!«, antwortet Gretchen und zwinkert mir lässig zu, doch ihr indianisches Gesicht wirkt plötzlich wie mit purpurrotem Puder bestäubt und ich frage mich, wieso. Dieser Dialog war an Blödheit doch kaum noch zu überbieten. Aber dann erinnere ich mich daran, wie behämmert ich mich damals in den ersten Monaten verhalten habe, als Merlin aufgekreuzt ist. Wenn er behauptet hätte, das Auto seines Vaters hätte eine Hupe oder Schnee sei weiß, hätte ich wahrscheinlich entzückt in die Hände geklatscht und ihn für wahnsinnig geistreich gehalten und tagelang überlegt, was er mir damit sagen wollte.
Aber wegen wem ist Gretchen rot geworden?
»Wir sollten uns beeilen«, stellt Dennis fest. »Die erste Stunde fängt gleich an.«
»Wenn ich diesem Gefängnis entronnen bin, dann werde ich den Rest meines Lebens nie mehr so früh aufstehen«, murmelt Alex vor sich hin. Wir laufen zusammen ins Schulgebäude. Dennis und er müssen in den ersten Stock, während Gretchen und ich zusammen in den zweiten Stock in unsere Klasse gehen. Auf dem Weg versuche ich, ihre gute Laune auszunutzen, und frage sie nach Linas unglücklicher Liebe.
Ihre großen blauen Augen werden noch größer. »Unglücklich? Soweit ich weiß, war diese Bi … ich meine, deine Schwester, nie unglücklich. Sie hat doch immer alles gekriegt, was sie wollte. Kannst du da nicht auch ein Lied von singen?« Sie schlägt sich die Hand vor den Mund und senkt den Blick ihrer blauen Augen zu Boden. »Oh, entschuldige, das habe ich nicht so gemeint.«
Ich starre Gretchen fassungslos an. Woher weiß Gretchen das mit Merlin? Wir setzen uns an unsere Plätze, aber es fällt mir schwer, mich auf den Unterricht zu konzentrieren. Ich will alles über Gretchen, Dennis, Alex und Lina wissen. Dennis sagt, da war was mit Alex. Alex gibt vor, von nichts zu wissen. Und Gretchen deutet an, Lina hatte nie Liebeskummer. Irgendjemand von ihnen lügt. Aber wer und warum?
Ich schaue Gretchen von der Seite an. Sie ist eine völlig Unbekannte. Genauso wie Dennis und Alex. Keinen hier kenne ich gut genug, als dass ich ihm wirklich trauen könnte.
Eine Gänsehaut läuft mir den Rücken herunter und ich muss schlucken, dabei spüre ich wieder die Druckstellen am Hals und Tränen schießen mir in die Augen. Ich starre auf das Pult vor mir, um meine Beherrschung wiederzufinden.
Lina hat ziemlich rumgeschmiert auf ihrem Tisch. Ich erkenne eine Karikatur von Frau Paul, ganz im typischen Lina-Stil, die sie nur halbherzig versucht hat zu übermalen. Das Bild ist ihr gut gelungen. Frau Paul wirkt sehr lebendig. Und dann sehe ich, dass sie noch etwas gemalt hat, mit dem gleichen Stift, was ihr später offensichtlich so peinlich war, dass sie beim Versuch, es wieder abzukratzen, in Kauf genommen hat, ein Loch in dem Tisch zu hinterlassen.
Peinlich? Oder vielleicht etwas anderes?
Ich starre darauf und versuche zu rekonstruieren, was Lina gemalt hat. Wenn ich ein Blatt Papier darüberlege und mit dem Bleistift darübermale, könnte ich es vielleicht rauskriegen. Ich hebe den Rucksack hoch, um meinen Ordner mit dem Papier herauszuholen und das Mäppchen aus meiner Vordertasche, und weil ich dabei brav nach vorne zu Frau Paul schaue, fühlen es meine Finger zuerst. Da ist etwas, was vorher nicht in meinem Rucksack war. Eine Art Bällchen. Ich greife
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