Dann fressen sie die Raben
sowieso schon todtraurig aus, also hole ich mir Kittel und Schuhüberzieher und gehe dann erst zu ihm.
»Wo ist Oliver?«, frage ich als Erstes, nachdem sich meine Lungen beruhigt haben.
»Der hat heute frei.«
Ich bin so erleichtert, dass ich ein dämliches Grinsen nicht unterdrücken kann. Lina ist also für heute in Sicherheit.
Pa schaut mich durchdringend an. »Wo kommst du eigentlich her? Hast du denn keine Schule?«
»Die haben eine ›Zeit für Lehrer‹-Veranstaltung«, lüge ich.
Er glaubt mir sofort. Pa ist es nicht gewohnt, dass ich lüge, früher habe ich dazu auch keinen Grund gehabt.
»Und wie geht es dir in der Schopenhauerschule? Sind alle nett zu dir?«
»Ja. Sehr.«
»Trotzdem, du siehst irgendwie komisch aus. Läuft es gut mit Mam und Oliver?« Pa beäugt mich kritisch und ich habe große Angst, dass er die blauen Flecken am Hals entdecken könnte. Er würde ausrasten.
»Prima, bestens. Es ist nur wegen Lina.«
»Ja, das ist für uns alle schwierig. Aber wir schaffen das. Eine Familie muss zusammenhalten.«
War mein Vater immer schon so naiv oder merke ich das bloß erst jetzt? Wir sind keine Familie! Was denkt er denn? Er und ich sind ein Team, aber der Rest?
»Jedenfalls trifft es sich ganz gut, dass du hier bist. Ich habe nachher einen Termin mit Solart-Bau wegen dem Tiroler Projekt. Und ich muss noch meinen Laptop bei Andreas holen.«
»Klar. Ich bleibe solange hier. Und Pa …« Ich beiße mir auf die Zunge. Ich würde so gern mit ihm über meinen Verdacht gegen Oliver reden. Aber ich weiß genau, was er dazu sagen würde. Totaler Unsinn! Nichts als wilde Spekulationen. Und je länger ich hier bin, desto unwahrscheinlicher kommt es mir vor, dass Oliver Lina an diesem Ort etwas antun würde. Jeder kann durch die Glasscheibe auf ihr Bett sehen. Gerade nickt mir Samira zu.
Abgesehen davon, der Gedanke flößt mir nun einen richtigen Schrecken ein, wäre sie dann nicht längst tot? Er wüsste doch am besten, wie man das anstellen müsste.
Pa stellt sich dicht vor mich hin. »Ruby? Du würdest es mir doch sagen, wenn irgendetwas los wäre, oder?«
»Hmm.« Mehr kriege ich nicht raus.
Er zögert noch einen Moment, dann wendet er sich zum Gehen.
Ich setze mich neben Lina und greife nach ihrer Hand. Sie kommt mir schon schmaler vor als das letzte Mal.
Pa winkt mir von draußen noch einmal zu und verschwindet dann.
Wenn ich Lina doch fragen könnte, wenn ich nur eine Ahnung hätte, was das alles zu bedeuten hat. Der Äskulapstab mit dem @- Zeichen. Wenn sie es nicht weggekratzt hätte, ich hätte es einfach übersehen. Und was soll das mit dem Artikel in meinem Rucksack? Napoleon. Das verstehe ich einfach nicht. Und wenn das nur ein Witz war, irgendein Jungsstreich in der vollen U-Bahn? So in der Art: Hey Alter, traust du dich, der Tussi etwas in einem Rucksack zu platzieren? Nein. Blödsinn.
Ich erzähle Lina alles, was ich bis jetzt herausgefunden habe, und flehe sie an, mir ein klitzekleines Zeichen zu geben, aber es passiert rein gar nichts. Sie liegt einfach da, still und stumm, in ihrer ganz eigenen Welt. Jemand muss ihr die Haare gewaschen haben, sie duften nach Pfirsich und schmiegen sich um ihr blasses Gesicht, leicht wie Federn. Zusammen mit den blau schillernden Augenlidern erinnert sie mich an eine zarte Taube.
Ich ziehe das Lederband mit dem Schlüssel über meinen Kopf, lege es in die Hand von Lina, drücke fest zu und hoffe, dass das kalte Metall irgendetwas bewirkt, ein Zucken, irgendwas.
Nichts.
Schwester Samira kommt herein, überprüft die Maschinen und die Infusion, dazu muss ich von Lina weggehen und ihre Hand loslassen, das Band mit dem Schlüssel fällt auf die Bettdecke.
Schwester Samira rettet es gerade noch vor dem Herunterfallen. Sie betrachtet es und ich sehe sie zum ersten Mal lächeln.
»Wende dein Gesicht stets der Sonne zu, dann fallen alle Schatten hinter dich«, sagt sie. »Das ist schön. Sicher von Linas Freund, oder?«
Linas Freund? Beinahe hätte ich mich verplappert und nachgefragt, was sie denn für einen Freund meint, aber das hätte sie ganz sicher sofort wieder zum Schweigen gebracht. In letzter Sekunde kriege ich noch die Kurve. »Wie kommen Sie denn darauf?«, frage ich.
»Das ist eine afrikanische Redensart. In Angola sagen wir das auch, sehen Sie?« Samira zeigt auf ihren Hals und nestelt eine ganz ähnliche Kette hervor, allerdings hängen bei ihr an dem bestickten Lederband statt des Schlüssels in der Mitte drei dicke gelbe
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