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Dann fressen sie die Raben

Dann fressen sie die Raben

Titel: Dann fressen sie die Raben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beatrix Gurian
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Bahnsteig und starre auf die Gleise unter mir, dann auf die Werbeplakate an den Wänden über mir. Ich will nichts denken, möchte die Zeit zurückdrehen und mit Lina reden.
    Eine U-Bahn fährt ein, Leute steigen aus und ein, ich schaue zu ihnen hinüber, aber ich sehe sie nicht. Ich stelle mir vor, ich würde hier auf Lina warten und dann würden wir zusammen im Bamberger Haus ein Eis essen gehen. Ihre Lieblingssorten waren Melone und Stracciatella. Unsinn, das ist Jahre her, Lina ist der Typ, der jeden Sommer eine andere Lieblingssorte hat.
    Lina war. War der Typ.
    Mein Blick fällt auf die Mäuse, die so flink zwischen den Gleisen herumhuschen, dass man sie erst sieht, wenn man genau hinschaut.
    Die Mäuse erinnern mich an meine Suche im Keller. Erinnern mich an den Angreifer, an das Lederband, an Napoleon und den Äskulapstab und das @-Zeichen. Wenn ich schneller gewesen wäre, wenn ich die Sachen bei Frau Vogel schon gefunden hätte, wäre es mir dann gelungen, Lina zu retten?
    Lächerliche Frage, sie ist tot. Aber irgendetwas in mir will keine Ruhe geben, will, muss wissen, was genau da los war. Vielleicht komme ich weiter, wenn ich herausfinde, wer mir den Hinweis mit Napoleon zugesteckt hat. Was, wenn es doch niemand in der U-Bahn war, sondern jemand aus der Schule? Denn dort wäre auch reichlich Gelegenheit dazu gewesen. Gretchen, Alex oder Dennis – mit denen habe ich heute Morgen gesprochen. Wirklich heute Morgen? Es scheint mir, als ob seitdem eine Ewigkeit verstrichen ist.
    Unwillkürlich sehe ich auf die Uhr. Es ist kurz nach drei. Schulschluss. Deswegen ist es hier unten in der U-Bahn-Station auch so voll.
    Abrupt stehe ich auf. Was tue ich hier eigentlich? Wo will ich denn hinfahren? Vor Linas Tod gibt es keine Flucht, egal wie schnell ich laufe oder wie weit ich fahre.
    In dem Moment ertönt das vertraute Rattern im Tunnel und im gleichen Augenblick bewegen sich die Massen in Richtung Gleis. Ich quetsche mich durch und muss dann auf den weißen Streifen ganz nah an der Bahnsteigkante ausweichen.
    »Hey«, beschwert sich eine Frau mit vier riesigen Tüten von XXXLutz. Ich muss unabsichtlich eine ihrer Tüten berührt haben. Gerade als ich mich entschuldigen will, stößt mich jemand fest in den Rücken. Ich verliere das Gleichgewicht und stürze nach vorne zur Bahnsteigkante, höre, wie die U-Bahn heranrattert, höre, wie die Frau mit den Tüten laut aufschreit. Das war’s, denke ich.
    Kurz bevor ich auf die Gleise falle, packt mich jemand an meiner Jeansjacke, zerrt mich brutal auf den Bahnsteig zurück und lässt mich dort abrupt los. Ich sacke auf den Boden, mir ist schwindelig und mein Herz rast noch viel schneller als eben gerade im Park.
    Um mich herum stehen jede Menge Leute, ich sehe nur die Schuhe und muss mich zwingen, meinen Kopf zu heben.
    »Das kommt vom Drängeln und Schubsen!«, sagt die Frau mit den Tüten voller Genugtuung.
    »Nein, jemand hat sie gestoßen«, protestiert ein junger kahl rasierter Typ in Springerstiefeln. »So ein Neger.«
    »Unsinn«, widerspricht die XXX-Lutzfrau, »der Schwarze hat sie doch gerettet.«
    Die Türen der U-Bahn gehen krachend auf und den Leuten fällt wieder ein, dass sie Besseres zu tun haben, als sich eine Dränglerin aus der Nähe anzuschauen.
    Nur ein alter Mann im Trenchcoat und mit schwarzem Filzhut, der sich auf seinen Rollator gesetzt hat, bleibt neben mir und schaut mich neugierig an, als erwarte er, dass der zweite Akt noch interessanter werden würde.
    Ich ringe mir ein Lächeln ab.
    »Junges Fräulein, geht’s Ihnen wieder besser oder soll ich den Notruf drücken?« Seine Stimme klingt heiser, wie eingerostet, als hätte er lange nicht mehr gesprochen.
    »Geht schon.« Ich versuche, mich aufzurichten, aber mir wird sofort schwarz vor Augen. Alles ein bisschen viel heute. Ich sacke wieder zurück.
    »Vielleicht«, er räuspert sich, »stehen Sie unter Schock. Soll ich nicht doch den Notruf betätigen?« Er klingt geradezu sehnsüchtig, als würde er nur zu gern Hilfe holen und dann beobachten, wie es weitergeht.
    Ich schnaufe ein paarmal durch und schüttle den Kopf. »Haben Sie gesehen, was passiert ist?«
    Der Alte nickt. »Sie hatten Glück und wurden gerettet.«
    »Und vorher, haben Sie da etwas gesehen?«
    »Nachdem die Frau mit den Tüten sich beschwert hat«, seine Augen glitzern begeistert, »da sind Sie nach vorne getaumelt. Hat diese unfreundliche Alte Sie geschubst?«
    »Mit vier Tüten in den Händen wohl kaum. Und das war

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