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Dann fressen sie die Raben

Dann fressen sie die Raben

Titel: Dann fressen sie die Raben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beatrix Gurian
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kein Schubsen, sondern ein fester Stoß.«
    Er sieht überrascht aus.
    »Haben Sie wenigstens gesehen, wer mich gerettet hat?«
    »Das war ich.« Mit großen Augen lächelt er mich so treuherzig an, dass ich es nicht schaffe, ihn auf den Rollator hinzuweisen.
    »Meine Schwester ist heute gestorben«, sage ich stattdessen und habe keine Ahnung, warum ich das ausgerechnet jetzt diesem alten Mann erzähle.
    Die Falten neben seinen Mundwinkeln vertiefen sich, er zieht seine dichten grauen Augenbrauen besorgt zusammen. »Dann hat Sie niemand geschubst, sondern Sie wollten sich selbst vor die U-Bahn werfen. Ich rufe doch lieber den Notarzt.«
    Meine Kehle ist wie zugeschnürt. Jetzt erst wird mir klar, was gerade passiert ist. Wenn mich nicht jemand in letzter Sekunde gerettet hätte, dann wäre ich vermutlich jetzt tot. Noch ein Selbstmord. Wie passend. Aber jemand hat mich gestoßen, ich habe das sehr deutlich gefühlt.
    »Nein, ich brauche keinen Notarzt«, wiederhole ich mantramäßig. »Ich wollte mich nicht umbringen. Schon allein wegen meiner Eltern.«
    »Wenn man sehr verzweifelt ist, dann denkt man nicht mehr an seine Eltern, das kann ich Ihnen versichern.« Er steht aus seinem Rollator auf und schiebt ihn näher zu mir hin. »Halten Sie sich fest, dann geht’s leichter.«
    Mit seiner Hilfe schaffe ich es, mich hochzuhieven. Dann stehen wir uns gegenüber. Er hat wässrige blaue Augen, die mich jetzt prüfend anschauen.
    »Selbstmord ist nie die richtige Lösung. Es gibt immer einen Ausweg, das können Sie einem alten Mann glauben.«
    »Was macht Sie da so sicher?«
    Er lächelt so breit, dass ich fast geblendet werde von der Gletscherpracht seiner künstlichen Zähne. »Ich war einmal einer der besten Magier der Welt, Eduardo Illuminato.« Er sieht mich so erwartungsvoll an, als müsste ich den Namen schon einmal gehört haben.
    Langsam wird mir klar, dass der Alte nur ein Opfer zum Reden sucht, bestimmt ist er sehr einsam. Er tut mir leid, aber ich habe jetzt wirklich andere Sorgen. Sobald das Zittern in meinen Beinen nachlässt, werde ich mich verabschieden.
    »Als Magier spielt man mit der Illusion und der Wirklichkeit«, sagt er. »Man sucht dauernd nach Auswegen, um das Publikum zu überraschen.«
    »Sie meinen, Sie versuchen, das Publikum abzulenken?«
    »Aber was ist denn eine Ablenkung anderes als ein Ausweg? Wenn Sie es schaffen, dass sich Ihr Publikum auf das konzentriert, was Sie wollen, und dabei tun Sie gleichzeitig etwas ganz anderes, dann benutzen Sie nur einen Ausweg, den sich das Publikum nicht vorstellen kann. Wenn Sie einmal darüber nachdenken, werden Sie erstaunt sein, was alles möglich ist.«
    »Vielleicht stimmt das, wenn man ein Kaninchen aus dem Hut zaubern will, aber doch nicht, wenn es um Wichtigeres geht.«
    Der Alte räuspert sich schon, offensichtlich entzückt, dass ich ihm auf den Leim gegangen bin, als plötzlich eine laute pompöse Melodie erklingt. Er greift in seine Manteltasche, zieht ein Handy heraus, lächelt mir wieder eisweiß zu und zuckt dann entschuldigend mit den Schultern. »Das ist meine Frau, die wissen will, wo ich so lange bleibe. Sie glaubt, ich hätte eine junge Geliebte.« Er kichert vergnügt in sich hinein, zwinkert mir zu und schiebt sich mit seinem Rollator dem Aufzug entgegen.
    So viel zu meiner »Der-Alte-ist-einsam-und-braucht-jemanden-zum Reden-Theorie«.
    Die nächste U-Bahn fährt ein, das Geräusch lässt mich schaudern, ich spüre den Stoß zwischen meinen Schulterblättern plötzlich wieder ganz deutlich, ich lasse mich auf eine der Bänke fallen und drücke mich ganz fest gegen das Drahtgestell.
    Erst als die U-Bahn wieder weg ist, mitsamt den Menschen, traue ich mich aufzustehen. Immer noch ein bisschen wacklig auf den Füßen gehe ich wieder nach oben und verlasse die U-Bahn-Station. Draußen kommt es mir noch kälter vor als vorhin, ich friere in meiner Jeansjacke.
    Sei froh, dass du frierst, schießt es mir durch den Kopf, deine Schwester spürt gar nichts mehr.
    Null. Nada. Niente.
    Und dann kommen wieder die Tränen und diesmal kann ich nicht mehr aufhören zu weinen.

11. Kapitel
    Ich brauche eine halbe Stunde vom Scheidplatz bis zur Mainzerstraße. Ich bin blind vor Tränen, mir ist übel und Passanten, die mir entgegenkommen, starren mich neugierig an. Ich blicke zu Boden, beiße meine Zähne zusammen und gehe weiter. Plötzlich möchte ich mich einfach nur in Linas Zimmer verkriechen und allein sein. Doch als ich endlich das Haus

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