Dann fressen sie die Raben
trösten.
Ich weiß nicht, was ich tun soll. Niemand sagt etwas, bis Samira sich räuspert, einen Schritt zum Bett macht, ihre Hand auf Linas Augen legt und sie mit einer routinierten und endgültigen Bewegung aus dem Handgelenk für immer schließt.
Das ist furchtbar. Schlimmer als alles. Ich beiße die Zähne fest zusammen, um nicht laut aufzuschluchzen. Jetzt beugt sich mein Vater zu mir und zieht mich doch mit Gewalt von Lina weg, nimmt mich in den Arm und presst mich fest an sich.
»Ruby, es ist schlimm, sehr schlimm.« Er streichelt mir über die Haare und murmelt unentwegt weiter. »Lina hat es nicht geschafft. Sie ist gestorben. Meine kleine große Lina ist weg. Ich erinnere mich genau an den Moment, als ich sie das erste Mal gesehen habe. Sie hatte sofort nach der Geburt ihre Augen weit offen, hat sich umgeschaut und jeden angelächelt. Ich weiß, dass Neugeborene nicht lachen können, aber ich sage dir, deine Schwester, die kam zur Welt und hat gelacht, so als wollte sie sagen, wird ja auch Zeit, dass ich endlich ans Licht komme. Die Hebamme und die Schwestern waren hingerissen von ihr. Ich werde dir nicht sagen, dass die Zeit alle Wunden heilt, denn das tut sie nicht. Niemals.«
»Hör auf!«, meine Mutter schreit, »hör auf damit, hör verdammt noch mal auf und sei still. Geht weg, ich möchte allein mit meiner Tochter sein. Verschwindet, sofort alle raus hier.«
»Katja.« Oliver versucht, sie mit seiner sanftesten Arztstimme zu beruhigen. »Katja, mein Liebes, bitte, du regst dich zu sehr auf …«
»Ich rege mich zu sehr auf?« Ihre Stimme ist zu einem heiseren Flüstern geworden. »Mein Kind liegt da und ist tot! Ich rege mich nicht auf! Ich bin verdammt noch mal wütend, so verdammt wütend. Ich verklage dieses Krankenhaus, ich verklage dich, ich verklage die ganze Welt, ich –«, ihre Stimme bricht ab und wird zu einem grauenhaften Schluchzen.
Oliver versucht, den Arm um sie zu legen, aber sie wehrt sich. »Verschwinde, hau ab.«
Jetzt lässt mich mein Vater mit einem letzten beruhigenden Tätscheln los, geht auf Ma zu, zieht sie an sich und Mama lässt es sich gefallen. Mir bleibt der Mund offen stehen. Genau davon haben Lina und ich vor der Scheidung immer wieder geträumt. Aber doch nicht so!
Mein Blick fällt auf Oliver, der bleich und hilflos versucht, so zu tun, als würde ihm das nichts ausmachen. Ich erinnere mich, dass er seine erste Frau verloren hat, und gegen meinen Willen tut er mir plötzlich einfach nur leid.
Samira nickt ihm freundlich zu und geht nach draußen. Der Streit, den sie und Oliver hatten, scheint wieder vergessen zu sein.
Ich schaue meine Schwester an, deren Augen jetzt geschlossen sind.
Ich erinnere mich wieder an den Tag, an dem ich Lina zum ersten Mal hier besucht habe. Ich sehe ihre Angst in den Augen, höre ihre Stimme, als sie vom bösen Schenk gesprochen hat.
Ich erinnere mich daran, wie ich sie mit aller Kraft festgehalten habe, als sie ins Eis eingebrochen war. Damals habe ich sie gerettet.
Ich erinnere mich, wie sie Merlin vor meinen Augen geküsst hat und wie sie sich nur drei Monate später tränenüberströmt bei mir entschuldigen wollte.
Ich erinnere mich, wie ich früher zu ihr ins Bett gekrochen bin und wir uns gegenseitig die Ohren zugehalten haben, damit wir den Streit zwischen Mam und Pa nicht anhören mussten. Und so getan haben, als wäre das alles nur ein Spiel.
Das Spiel ist vorbei.
Noch immer schaue ich sie an. Ihr Mund steht ein wenig offen, ihr blondes Haar liegt um ihren Kopf ausgebreitet und ihr Gesicht ist blasser als noch heute Morgen. Sie sieht nicht mehr so aus, als ob sie schlafen würde, aber sie sieht auch nicht aus wie die Leichen im Tatort. Wo ist alles Lebendige in ihr hin? Ich muss an Physik denken. Sie würde mich auslachen, typisch Miss Einstein, würde sie sagen. Aber wenn es stimmt, dass Energie niemals verloren geht, wo ist dann ihre hin? Wo sind ihre Gefühle und Gedanken hin? Ich glaube nicht, dass wir in den Himmel oder in die Hölle kommen oder das Paradies auf uns wartet, aber ich denke doch, die Energie unserer Seele geht irgendwohin. Aber wohin? Ich verstehe plötzlich, warum man früher die Fenster geöffnet hat, wenn jemand gestorben ist: damit die Seele zum Himmel fahren kann.
Und in diesem Moment habe ich das Gefühl, dass ich hier auch rausmuss, sofort. Das hier ist nicht mehr Lina. Der Körper auf dem Bett ist nicht mehr meine Schwester.
Mam setzt sich neben Lina. Oliver geht aus dem Zimmer. Ich
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