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Dann fressen sie die Raben

Dann fressen sie die Raben

Titel: Dann fressen sie die Raben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beatrix Gurian
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sehe, wie er mit Samira spricht, die energisch den Kopf schüttelt. Langsam gehe ich rückwärts zur Tür, wobei ich Lina noch immer im Blick behalte.
    »Samira, ich weiß, es ist Vorschrift, dass sie ins Sterbezimmer neben der Krankenhauskapelle gebracht werden muss«, sagt Oliver gerade müde. »Aber lass uns das für eine halbe Stunde vergessen, dann sorge ich dafür, dass alles seinen Gang geht.«
    Ich will wirklich nur noch weg. Auf dem Weg zur Treppe kommt mir Alex entgegen. »Was ist hier …?« Und als ich nichts antworte, wird er blass. »Ist sie?«
    Ich kann nichts sagen, weil ich sonst sofort wieder losheulen würde, und renne zur Glastür, die ins Treppenhaus führt. Alex kommt hinter mir her.
    »Sie ist noch dort!«, rufe ich über meine Schulter zurück, in der Hoffnung, dass er mich dann in Ruhe lässt, aber stattdessen verfolgt er mich, holt mich am Treppenabsatz ein und hält mich am Handgelenk fest.
    »Ruby, Ruby, bitte beruhige dich.«
    »Ich muss raus hier.«
    »Gut, dann gehe ich mit dir. Du solltest jetzt nicht alleine sein.« Er legt den Arm um meine Schulter, ich schüttele ihn ab, aber er lässt nicht locker und ich bin zu schwach.
    Draußen wissen wir beide nicht, wohin wir gehen sollen. »Luitpoldpark?«, schlägt er vor. Ich nicke, gehe neben ihm her wie ein Automat und freue mich über die Kälte, die der Wind durch meine dünne Jeansjacke fegt und den Krankenhausmief davonträgt.
    Alex räuspert sich und ich hoffe, er spart sich alle banalen pseudotrostreichen Kommentare. Er zögert, als ob er meine Gedanken gelesen hätte, räuspert sich wieder.
    »Ich hatte nie Geschwister, außer euch, meine ich. Aber das ist anders, oder … also deshalb glaube ich, es muss schlimm für dich sein. Nein, Unsinn, ich weiß es.« Er schweigt einen Moment und ich begreife, dass er an seine Mutter denkt. »Es tut mir wirklich leid. Ich war ganz sicher, sie wacht wieder auf. Sie ist doch so stark.«
    Jetzt spricht er wieder in der Gegenwart von ihr? Jetzt?
    »Ja, das ist sie.« Meine Augen füllen sich mit Wasser. Ich sehe sie vor mir, wie sie mit leuchtenden Augen auf Rasputin über den Bach springt, obwohl das streng verboten ist. Und wie sie mich wegen meiner Feigheit auslacht.
    »Aber du musst es ihr zugestehen.« Alex redet immer noch, ich hab den Faden verloren. »Sie wollte nicht mehr leben, und wenn ein Mensch das nicht mehr will, dann kann ihn niemand zwingen.«
    Ich bleibe stehen. »Was redest du denn da? Du spinnst wohl! Ich bin ganz sicher, dass sie nicht sterben wollte. Sie wollte leben, sie hatte Angst vor etwas oder jemandem. Und ich schwöre bei allem, was mir wichtig ist, ich werde herausfinden, was los war.«
    Als Alex mich ungläubig von der Seite anstarrt, lege ich noch nach. »Und es ist bestimmt kein Zufall, dass sie all ihre Sachen verstecken musste. Zum Glück weiß ich, wo sie sind.«
    Alex bleibt stehen und legt die Arme wie einen Schraubstock um mich, sodass ich es nicht schaffe, mich ihm zu entziehen. »Ruby, hast du eigentlich eine Ahnung, was du da redest? Du klingst total hysterisch. Denk doch mal an deine Eltern. Für sie wäre es der Super-GAU, wenn du auch noch durchdrehst.«
    »Ganz im Gegenteil! Wenn ich die Wahrheit herausfinde, dann werde ich sie davor bewahren, verrückt zu werden.«
    »Entschuldige mal, aber deine Schwester war nicht ganz dicht, wie alle, die sich umbringen. Ich verstehe, dass du traurig bist, aber es macht sie nicht wieder lebendig, wenn du dir eine Verschwörungstheorie zusammenbastelst.«
    Er ist nicht bloß ein Fluch, er ist ein komplettes Arschloch! Ich starre ihn fassungslos an, weiß nicht, was ich zu diesem Schwachsinn sagen soll, stoße ihn weg von mir und stürme los. Weg, nur weg von ihm, von allen.
    »Ruby!« Alex verfolgt mich wieder, aber diesmal werde ich immer schneller und er fällt zurück. Vielleicht hat er jetzt auch genug von mir. Egal. Ich renne trotzdem weiter durch den Park, als könnte ich allem, was passiert ist, davonlaufen. Ich habe keine Ahnung, wo ich hinwill, bis ich das U-Bahn-Schild Scheidplatz vor mir sehe und mich spontan für die U-Bahn entscheide.
    Ich renne runter in das Zwischengeschoss mit den Kartenautomaten, beruhige mich und schalte dann, während ich ganz nach unten trabe, einen Gang langsamer. Mein Herz trommelt trotzdem noch hektische Rhythmen und meine Waden sind schwer und so verkrampft, als wäre ich einen Marathon gelaufen.
    Ich setze mich auf einen Sitz der rostigen Drahtgeflechtbänke auf dem

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