Dann fressen sie die Raben
wüsste, wonach ich genau suche.
Ich folge dem Trampelpfad zum fleckigen Sofa, dessen Farbe man in dem Licht nicht erkennen kann, und setze mich dort auf den schmalen freien Streifen. Umgeben von all den modrigen Kartons und aufgeplatzten Müllsäcken fühle ich mich wie überflüssiges Strandgut, das niemand je aufsammeln wird. Ich ziehe die Knie hoch, lege meine Arme um sie herum und lehne den Kopf dagegen.
Und so bleibe ich eine sehr lange Zeit sitzen und denke immer nur: Lina ist tot. Dann kommt noch ein Gedanke dazu: Ich wäre auch beinahe gestorben. Aber warum? Wenn ich tief einatme, spüre ich die Stelle, wo ich gestoßen wurde.
Ich muss mit Pa über das alles reden. Unsinn. Lina ist tot, das ist schlimm genug, noch mehr kann er nicht verkraften. Und Mam? Sie würde mir nicht mal glauben, würde es für eine Reaktion auf Linas Tod halten.
Ich wünschte, ich könnte mit Pa einfach zurück nach Hause, lange mit Sonny ausreiten, Feli besuchen und das alles vergessen.
Feli. Ich muss sie anrufen, denke ich. Aber komischerweise scheue ich davor zurück, meiner besten Freundin zu erzählen, was passiert ist. Als ob es dadurch erst wirklich wird.
Mutlos strecke ich meine Beine wieder aus und gehe zurück zur Tür, die ich kaum über den vermüllten Boden ziehen kann.
Das hier hat alles keinen Sinn. Ich laufe nach oben, sehne mich nach einer Dusche und frischen Klamotten, muss diesen grauenhaften Tag von mir abspülen. Außerdem möchte ich das Lederband mit dem Schlüssel wieder im Sitzsack verstecken.
»Ruby, bist du das?« Als ich die Tür aufmache, stürmen mir Oliver und Ma entgegen.
»Wo warst du?«
»Spazieren.«
»Spazieren?« Oliver baut sich vor mir auf. »Deine Mutter hat sich solche Sorgen gemacht.«
»Hat Alex denn nichts erzählt?« Nicht nett von mir, Alex ins Spiel zu bringen, aber er ist schuld, dass ich weggerannt bin.
Meine Mutter kommt zu mir und umarmt mich. »Ruby, Oliver hat es nicht so gemeint, aber als du aus dem Krankenhaus gestürmt bist, haben wir uns große Sorgen gemacht. Ist alles in Ordnung mit dir?«
Sie schaut mir prüfend in die Augen und ich sehe, wie verquollen und rot ihr Gesicht vom vielen Weinen ist. »Es tut mir leid«, flüstere ich und meine es auch so.
»Schon gut, du bist ja da.« Sie drückt mich an sich, streichelt über meinen Rücken und berührt dabei die Druckstellen von meinem Kellersturz. Ich zucke leicht zusammen, doch niemand bemerkt es.
Ich erkläre ihnen, dass ich dringend duschen möchte. Sie nicken, aber ich habe den Eindruck, dass sie irgendwie enttäuscht von mir sind.
Zuerst verstecke ich das Band mit dem Schlüssel wieder im Sitzsack, dann gehe ich in Linas Bad und versuche, nicht auf das kaputte Schloss zu schauen. Beim Ausziehen raschelt es in meiner Jeansjacke. Ich schaue nach, weiß genau, da war nur ein Labello drin und sonst nichts.
Es ist ein zerknitterter weißer Umschlag.
Ich setze mich auf den flauschigen dunkelgrünen Badvorleger und lege den Umschlag auf den Klodeckel. Was ist das für ein Umschlag? Und woher kommt er?
Ich starre ihn an wie eine giftige Schlange und fürchte, ich werde auch gleich vom Baum der Erkenntnis essen. Und ich habe keine Ahnung, ob mir das schmecken wird.
Mit zitternden Händen öffne ich den Umschlag.
V
… denn mancher Argwohn ist Sünde. Und spioniert nicht und führt keine üble Nachrede übereinander. Würde wohl einer von euch gerne das Fleisch seines toten Bruders essen?
((49:12))
Er liegt zwischen Hunderten von aufeinandergestapelten Getränkekisten auf den Knien und schlägt die Stirn gegen den schmutzigen Boden, so heftig, dass die Kakerlaken aufgeschreckt davonhuschen.
Immer wieder, er verdient mehr Strafe als das. Er war unachtsam, er hat es schon zum zweiten Mal verpatzt, er war zu sentimental. Er unterdrückt ein Schluchzen, Selbstmitleid führt nicht weiter. Selbstmitleid schwächt nur, das hat Kimoni erkannt. Doch seine Idee, dass Gerechtigkeit besser sei als Rache, die hat ihn umgebracht.
Sie hatten die elenden Ratten, zu denen man sie gemacht hatte, überschätzt. Ratten haben keinen Sinn für Gerechtigkeit, nur für Futter.
Aber sie, die anderen, sind mächtig, sie sind allgegenwärtig, sie essen das Fleisch ihrer Brüder.
Er hat es wieder nicht fertiggebracht, Amari zuvorzukommen, obwohl sie ihm gesagt hat, wozu er imstande sein kann. Es ist, als ob Amari von jemandem gelenkt würde, der jeden seiner Schritte schon im Voraus kennt. Als ob jemand seine Gedanken lesen
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