Dann fressen sie die Raben
könnte.
Einzig, was die zarte Tochter angeht, hat er die richtige Entscheidung getroffen. Er holt das rosafarbene Handy aus der Hosentasche und küsst es wie einen Glücksbringer. Er muss sich beeilen, sonst wird es noch mehr falsche Tote geben.
12. Kapitel
Es ist kein Abschiedsbrief von Lina, sondern etwas noch viel Grausameres.
Ein Foto.
Ein gestochen scharfes, entsetzliches Foto.
Das weit offene Auge eines jungen Mannes starrt mich flehend an. Den Rest seines schwarzen Gesichtes sieht man nur im Profil, sein Schädel ist an einer Seite zertrümmert, um den Kopf herum ist eine kreisförmige Lache, glänzend wie ein schwarzer Heiligenschein. Er liegt seitlich, als hätte man ihn viel zu spät in die stabile Seitenlage gedreht. Über seinen nackten Rücken verläuft eine lange, wulstige hellbraune Narbe, er trägt Jeans und völlig abgelatschte Turnschuhe, um seinen Hals trägt er eine Kette. Je länger ich ihn betrachte, desto deutlicher habe ich das Gefühl, dass mir etwas auf dem Bild bekannt vorkommt.
Aber was? Ich kenne keine Afrikaner.
Ich kann nicht länger hinschauen und will es auch nicht.
Was hat das grauenhafte Bild mit mir oder Lina zu tun? Warum hat es jemand in meine Jeansjacke gesteckt? Und vor allem - wer hat das getan?
Dieser junge Typ ist tot, Lina ist tot. Und ich wäre beinahe tot. Napoleon ist vielleicht auch schon tot. Ich beiße mir auf die Zunge, um nicht schon wieder zu weinen. Es muss einen Grund für all das geben.
Als ich aus dem Bad komme, hat Mam einen Kakao gekocht, als wäre ich sechs Jahre alt, und zuerst bin ich sicher, keinen Schluck davon runterzubringen, aber dann merke ich, wie gut er mir tut. Ich würde ihr gern von dem Bild erzählen, aber sie sieht so unglaublich traurig aus. Zum ersten Mal finde ich, dass sie alt wirkt. Uralt.
Wir sitzen schweigend um den langen Esstisch. Es ist so still, dass man den Wind hört, der ums Haus streicht. Bei dem Gedanken, nachher in Linas Zimmer schlafen zu müssen, in ihrem Bett, wird mir mulmig, und ich wünsche mir, ich wäre mit Pa in Nusstal und alles würde sich nur als ein schlimmer Albtraum entpuppen.
Als es klingelt, sind alle erleichtert. Ich gehe zur Tür und bin froh, Pa zu sehen. Obwohl er tiefe Schatten unter den Augen hat, eingefallene Wangen und tief herabhängende Mundwinkel, muss ich jetzt mit ihm reden. Sofort.
Ich ziehe ihn in Linas Zimmer und bitte ihn, mir zuzuhören. Er bleibt so ruhig, dass ich schon Angst habe, er könnte eingeschlafen sein, aber immer, wenn ich eine Pause mache, hakt er sofort nach. Als ich geendet habe, stöhnt er leise. »Was also sollen wir deiner Meinung nach tun?«
»Zur Polizei gehen, denen alles erzählen und ihnen das Foto zeigen.«
»Die Polizei hat, wie du weißt, ein Fremdverschulden bei Linas Selbstmord …«, seine Stimme zittert verdächtig, aber er räuspert sich und redet weiter, »ausgeschlossen.«
»Die Polizei kann sich irren.«
»Aber wir haben nichts. Das, was Lina über euren Kuschel-Schenk gesagt hat, oder die Tüte mit Sachen, die sie angeblich bei Frau Vogel versteckt hat, das sind keine Beweise. Und mal angenommen, es wären Beweise, dann frage ich dich, wofür.«
»Aber in der U-Bahn gibt es doch Videoüberwachung, vielleicht kann man da sehen, wer mich gestoßen hat.«
Er will mir widersprechen, aber dann nickt er, und weil er merkt, wie wichtig es mir ist, machen wir uns trotz aller Proteste von Mam und Oliver, denen wir allerdings nicht verraten, wohin wir wollen, sofort auf den Weg. Wir gehen zum nächsten Revier, zu den Beamten, die auch Linas Tod untersucht haben.
Dort werden wir an Frau Koslowsky verwiesen. Sie ist die zuständige Jugendbeamtin, so zart und blond wie Natalie Portman in Black Swan , was ich irgendwie beunruhigend finde.
Sie hört sich meine Geschichte an, kommentiert nur wenig, findet aber »das bisschen Schubsen« in der U-Bahn-Station nicht der Rede wert. Erst als ich ihr das Foto zeige, kommt Leben in sie, ja, sie wird richtig nervös. Jetzt will sie alles über das Foto wissen, will wissen, ob Lina Freunde hatte, die sich in der rechten Szene bewegen. Als sie merkt, dass ich ihr wirklich nicht sagen kann, wer mir das Foto gegeben hat, wird sie ein bisschen ungehalten. Sie glaubt ganz offensichtlich, ich wüsste mehr darüber und wollte es nur nicht preisgeben. Ob ich vielleicht den Ort kennen würde oder mir sonst irgendetwas auf dem Bild bekannt vorkäme?
Ich werde rot. Wie soll ich das Gefühl beschreiben, das ich hatte,
Weitere Kostenlose Bücher