Dann fressen sie die Raben
antworten kann, klingelt es an seiner Wohnungstür. Alex lässt mich einfach stehen und geht aufmachen.
Eine Minute später steht Dennis vor uns, heute in einem Hugo-Boss-Anzug, der ihn zehn Jahre älter wirken lässt. Er lächelt mir zu, schaut dann aber verlegen zu Alex, als wüsste er nicht, was er sagen sollte. Ich sehe es ihm genau an, er hat schon von Linas Tod gehört. Vermutlich hat es sich an der Schule wie ein Lauffeuer herumgesprochen.
Alex begrüßt er mit einem leichten Schulterklopfen.
Ich schaue von einem zum anderen und überlege, was sie wohl verbindet. Es entsteht eine peinliche Pause und mir fällt nichts Besseres ein als: »Muss denn keiner von euch Jungs in die Schule?«
»Einen wunderschönen guten Morgen dir auch, trotz allem.« Dennis schüttelt traurig seine hellbraunen Locken. »Ruby, Ruby, Ruby, manchmal gibt es Wichtigeres als Schule! Das müsstest du doch am besten wissen. Es tut mir so leid, das mit Lina. Wirklich.« Er tritt einen Schritt auf mich zu, offenbar unschlüssig, ob er mich umarmen soll.
»Ruby wollte gerade gehen«, sagt Alex unwirsch.
Ach, ja? Das wüsste ich schließlich.
»Aber warum denn?« Dennis wedelt mit einer Tüte, die er hinter dem Rücken versteckt hatte. Er sieht mich sorgenvoll an. »Hast du seit gestern überhaupt schon etwas gegessen? Ich habe bei der französischen Bäckerei im Westend Croissants geholt, genug für uns alle. Du bist sowieso schon so dünn.«
Croissants? Ich kann jetzt nicht mal an Croissants denken, geschweige denn, sie essen.
»Nein danke«, sage ich hastig. Plötzlich möchte ich tatsächlich gehen. Ich schnappe mir meine Jeansjacke und will sie mir gerade überziehen, als etwas aus meiner Tasche segelt und auf dem glänzend polierten schwarzen Granitboden zum Liegen kommt.
Das Foto.
Für einen Moment starren wir alle drei auf das Bild.
Dann bückt sich Alex und greift danach. Er wird unglaublich blass, wie Käpten Sparrow, wenn ihn die Krake am Haken hat. »Wo hast du das her?« Seine Stimme klingt, als würde ihm jemand den Kehlkopf abdrücken, auf seiner Stirn glänzen plötzlich Schweißperlen. »Red schon, wieso trägst du Fotos von solchen Kretins mit dir herum?«
Ich starre ihn an. Kretins?
»Red schon!« Er kommt auf mich zu und hebt seine Hand, als wollte er mich schlagen.
»Hey, hey, jetzt mal langsam, Alter!«, mischt sich Dennis ein und geht auf Alex zu.
»Was soll denn das werden?«, frage ich und gebe mir Mühe, stark zu klingen.
»Ich verstehe nicht, warum du Fotos von irgendwelchem Abschaum mit dir herumschleppst!« Alex versucht ganz offensichtlich, die Fassung wiederzugewinnen. »Hast du das bei Linas Sachen gefunden? Läufst du deswegen hier herum und wirfst mit wilden Anschuldigungen um dich?«
Dennis wirft auch einen Blick auf das Foto. »Was regst du dich eigentlich so auf, Alex? Kennst du den Typen etwa?«
Aber Alex antwortet ihm nicht. Stattdessen zerreißt er das Foto in tausend kleine Schnipsel, geht zu einem der Fenster, öffnet es und lässt sie wie Schneeflocken nach unten rieseln. Dann putzt er sich die Hände an seiner Jeans ab, als wären sie schmutzig, und atmet tief durch. »Okay, weg mit dem Schund. Was geht uns totes Ausländerpack an. Will jemand Kaffee?«
»Warum hast du das Bild weggeworfen?« Ich kann nicht glauben, dass er dieses schockierende Foto einfach zerreißt und so tut, als hätte man darauf nur eine tote Kakerlake gesehen und keinen Mensch.
»Wolltest du das etwa in dein Fotoalbum einkleben?« Alex hat plötzlich seine Fassung wieder.
»Ich finde, Alex hat recht. Man sollte sich nur mit schönen Dingen umgeben, wie zum Beispiel mit Frauen wie dir«, sagt Dennis. »Wo hast du das überhaupt her?«
»Das werde ich euch ganz bestimmt nicht auf die Nase binden.« Selbst Dennis, der mir einen treuherzigen Blick aus seinen lang bewimperten Augen zuwirft, kommt mir plötzlich falsch vor. Das Bild ist vielleicht der Schlüssel zu Linas Tod und Alex hat noch nicht einmal Dennis’ Frage beantwortet, ob er den Typen auf dem Foto kennt!
Ich funkele meinen Stiefbruder an, aber der steht mittlerweile bei der teuren Espressomaschine und befüllt sie seelenruhig mit Wasser, als wäre überhaupt nichts gewesen.
Kommentarlos schnappe ich meine Tasche und renne zur Aufzugtür. Dennis folgt mir und bleibt vor der Tür zum Aufzug stehen. »Hey, sei nicht sauer auf Alex. Ihm macht der Tod von Lina viel mehr zu schaffen, als du denkst. Außerdem solltest du wirklich etwas essen. Du
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