Dann fressen sie die Raben
ähnlich. Wir alle sitzen nur um den Tisch herum und starren die Brote an, die Butter und den Käse, den Pa hingestellt hat, aber niemand nimmt sich etwas. Schließlich räumt Pa wieder alles ab und dann wollten sie wissen, ob ich mit zu ihrem Termin beim Beerdigungsinstitut kommen möchte, aber selbst wenn ich nicht mit Gretchen verabredet wäre, würde ich es nicht über mich bringen, einen Sarg für Lina auszusuchen.
Gleich nach ihnen mache ich mich auf den Weg. Wie sie mir am Telefon erklärt hat, gehört Gretchens Vater eine ganze Kette von italienischen Restaurants, die über die ganze Stadt verteilt sind. Aber das, in dem Gretchen heute arbeitet, muss ausgerechnet in Riem liegen, am Ende der Welt.
Ich bin über eine Stunde dorthin unterwegs und muss von der U-Bahn-Station noch ewig zu Fuß durch ein völlig ödes, matschiges Neubaugebiet laufen, das bei dem trüben Wetter noch grauer wirkt, als es wahrscheinlich ist. Die Pizzeria sehe ich allerdings schon von Weitem, sie ist hell erleuchtet und erscheint mir in all dem Grau wie eine Oase.
Deswegen bin ich nicht wirklich überrascht, wie voll es hier mitten in der Pampa an einem ganz normalen Mittwochabend ist. Es sind mehrere Räume, die von dem offenen Steinofen weg und ineinander übergehen. Die Wände bestehen aus Steinplättchen, die Fußböden sind schwarz, die orangefarbenen Stühle sehen aus wie Klubsessel in Siebzigerjahre-Filmen. Das alles klingt vielleicht seltsam, aber es wirkt sehr gemütlich.
Ich sehe mich um und da kommt schon Gretchen auf mich zu. Sie trägt einen wadenlangen schwarzen Rock und eine weiße Bluse mit Puffärmeln. Ihre schwarzen Pocahontashaare sind ordentlich zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.
Sie winkt mich in eine Wandnische und ich bin froh, dass sie sich die Floskeln spart, von wegen, wie leid ihr das mit Lina tut.
Stattdessen erklärt sie mir die Pizzasorten und empfiehlt Pizza Maria Callas , die Spezialität des Hauses, eine Pizza mit Krabben, Knoblauch, Lauchzwiebeln und Crème fraîche. Sie wirkt so eifrig, dass ich es nicht übers Herz bringe, ihr zu sagen, dass ich keinen Hunger habe.
»Was willst du eigentlich von mir?«, fragt sie, nachdem unsere Saftschorlen vor uns stehen und wir beide einen großen Schluck getrunken haben. Johannisbeer für mich, Maracuja-Rharbarber für sie.
»Die Wahrheit wissen.«
»Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit?« Gretchen grinst mich an, aber dann wird sie sofort ernst. »Entschuldige, ich vergesse immer wieder, dass Lina tot ist. Es tut mir wirklich leid für dich.«
»Du hast ja auch Schwestern«, sage ich und hoffe, sie damit ein bisschen verständnisvoller zu stimmen. »Dann kannst du dir vielleicht vorstellen, wie schrecklich sich das anfühlt.«
»Wieso, hast du etwa Schuldgefühle, weil ihr getrennt wart? Ich wünschte mir oft, meine Schwestern wären in Sizilien, und ich hätte hier meine Ruhe. Also, warum bist du hier?« Ihre blauen Augen leuchten aus ihrem Pocahontasgesicht wie ein bayerischer Biergartenhimmel über frisch glänzenden Kastanien.
»Ich bin sicher, dass Linas Tod kein Selbstmord war.«
»Und was hat das mit mir zu tun?« Der Biergartenhimmel wird deutlich dunkler, Gewitterstimmung macht sich breit.
»Du hast gesagt, sie war eine Bitch.«
Sie kaut auf ihrer Unterlippe herum. »Wenn ich gewusst hätte, dass sie stirbt, hätte ich das nicht gesagt.«
»Aber du hast es so gemeint, oder?«
Gretchen überlegt kurz, dann nickt sie. »Yep. Deine Schwester und ich waren befreundet.«
»Aber dann ist etwas passiert.«
Sie zögert, aber schließlich gibt sie sich einen Ruck. »Wir waren Freunde, bis sie mir Dennis ausgespannt hat.«
Gretchen war also auch mal mit Dennis zusammen? Das erklärt die Bitch. Natürlich muss ich sofort wieder an Merlin denken und daran, dass angeblich immer zwei dazu gehören.
»Warum hat sie das deiner Meinung nach getan?«
»Na, warum wohl? Sie war scharf auf ihn!«
»Hat sie Dennis geliebt?«
Gretchen winkt jemandem im Lokal zu und nimmt einen Schluck aus ihrem Glas. »Ich weiß es nicht. Besonders groß kann die Liebe nicht gewesen sein. Sie hat ihn nämlich nach vier Wochen schon wieder abserviert.«
Lina hat ihn wieder verlassen?
»Aber du? Was ist mit dir?«
Gretchen lächelt mich an und zuckt dann mit den Schultern. »Andere Mütter haben auch schöne Söhne.«
»Es tut mir leid, was meine Schwester getan hat.« Ich greife nach meinem Glas und komme mir schäbig vor, so, als ob ich Lina verrate. Aber
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