Dann fressen sie die Raben
den türkisen Schlaufen einer großen Douglas-Papiertüte, und als ich meinen Fuß befreien will, stoße ich gegen einen Haufen Kartons, der ins Rutschen gerät. Verzweifelt drehe ich mich um und versuche, den Turm zu halten. Vergeblich, die Kartons stürzen auf mich, neben mich, und der Inhalt ergießt sich über mich. Obwohl die Kartons leicht feucht sind, machen sie dabei einen Krach, als wären sie aus Holz. Etwas Schwarzes fällt mir auf den Kopf, versperrt mir die Sicht, panisch reiße ich es runter, schnappe nach Luft. Als ich erkenne, was ich da in der Hand halte, muss ich mir trotz meiner Angst ein hysterisches Lachen verbeißen, denn um mich herum fliegen halterlose Strümpfe, rot-schwarze Korsetts aus billiger Spitze und Strumpfhalter, die ich mir beim besten Willen nicht an Frau Vogel vorstellen kann.
Etwas Nasses stupst mich an meine Beine, ich schrecke zusammen, sehe aber sofort, dass es die Schnauze von Leon ist, der den Weg zurück zu mir gefunden hat. Schwanzwedelnd steht er vor mir, ein schwarzer Spitzenstrumpf liegt über seinem Nacken wie ein perverses Halsband, ich nehme es herunter, tätschele seinen dicken Hals und bin sehr erleichtert, dass er lebt und hier bei mir ist.
Ein ganz nahes Stolpern lässt mich zusammenfahren, und als ich den Blick hebe, entdecke ich ihn sofort – nur eine Armeslänge entfernt von mir. Der Typ von gestern starrt mich mit großen Augen an und hebt beschwörend seine Hände.
»Bitte«, sagt er.
In meinen Ohren rauscht es und ich erstarre, als wäre mein Körper ein Wasserfall, der sich gerade in Eiszapfen verwandelt.
»Bitte, nicht schreien.«
Warum sollte ich das tun? Hier hört mich eh niemand. Ich versuche, mich aus meiner Erstarrung zu lösen und mir zu überlegen, wie ich an ihm vorbeikommen kann. Aber da verdrängt die Erinnerung an das Knie in meinem Rücken und den Dreck in meiner Nase alles andere und ich habe wieder das Gefühl zu ersticken, muss mich zwingen, ruhig und regelmäßig zu atmen. Das war gestern, beschwöre ich mich, das war gestern, jetzt kriegst du genug Luft, heute wirst du nicht ersticken. Aber mein Herz glaubt mir nicht und legt einen weiteren Zahn zu. Er kommt noch näher.
»Nein!« Ich schreie jetzt doch und weiche unwillkürlich zurück, stolpere dabei über Napoleon und falle rückwärts unerwartet weich in den Haufen aus Dessous. Und plötzlich fesselt mich die Angst, so als wäre ich in ein Spinnennetz gefallen, all mein Mut ist klebrig eingewickelt, liegt neben mir wie eine tote Larve, mir ist schlecht und schwindelig. Ich schließe meine Augen. Gestern habe ich es geschafft, nur, um hier zu sterben. Und hier muss er nicht mal meine Leiche entsorgen, denn er kann mich einfach liegen lassen, Müll über mich häufen und vergessen. Ich kauere mich zusammen wie ein Tier und warte auf den letzten Schlag.
Warte.
Atme flacher.
Jemand atmet mir ins Gesicht, angewidert zucke ich zurück. Gleichzeitig erkenne ich den Geruch: Käse und Tiertrockenfutter. Leon. Ich öffne die Augen und sehe direkt in treuherzige Hundeaugen. Vorsichtig hebe ich den Kopf und stelle überrascht fest, dass mein Angreifer sich keinen Millimeter gerührt hat.
»Ich war das nicht, gestern.« Er hebt beschwörend seine Hände. Seine Stimme ist überraschend tief, wie die Stimme eines dicken Mannes. »Du bist von einem Schwarzen angegriffen worden, das stimmt. Aber nicht von mir.«
»Nein, natürlich nicht.« Und ich bin die Jungfrau Maria. »Aber du warst dort!«
Der Schwarze macht einen Schritt auf mich zu.
Ich weiche zurück, presse mich fester in den Kleiderhaufen.
»Stehen bleiben!« Ich bemühe mich, fest zu klingen, und tatsächlich macht er, was ich sage. So kann ich sein Gesicht trotz des Halbdunkels etwas ruhiger betrachten und mir werden zwei Dinge klar. Erstens, wenn er wirklich mein Angreifer wäre, müsste er eine Wunde im Gesicht haben und penetrant riechen, und zweitens erkenne ich ihn jetzt ganz eindeutig. Er ist der Typ vom Foto. Der gleiche Junge, der mich neulich auf dem Spielplatz erschreckt hat. Und derjenige, den Martin Bolzern in die Flucht geschlagen hat.
»Ich würde dir niemals etwas antun.« Er streckt mir seine Hand entgegen, dabei zieht er seine Schultern nach oben und seine Augen werden so groß, dass das Weiße darin durch das trübe Licht blitzt. Seine Haltung wirkt so zurückgenommen und schüchtern, dass etwas in mir bricht. Meine Angst taut und ich merke, dass ich ihm gerne glauben möchte. Gleichzeitig frage ich
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