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Dann fressen sie die Raben

Dann fressen sie die Raben

Titel: Dann fressen sie die Raben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beatrix Gurian
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wiedererkenne. Erleichtert atme ich tief durch und genieße es, die Luft kommt mir nach dem klebrigen Plastik süß vor und rein.
    »Also, Ruby, jetzt musst du dich entscheiden.«
    Die Stimme klingt wie die Durchsagen im Flugzeug, nur ohne Störungen. Ruby? Der Mann kennt mich und hat Angst, ich könnte seine Stimme erkennen, deshalb hat er seine Handflächen direkt vor den Mund gelegt.
    »Du kannst in drei Minuten auf dem Weg nach Hause sein oder hier drin verrotten. Alles, was wir von dir wollen, sind Linas Sachen. Ihr Handy, Fotos, Filme, einfach alles. Gib es uns und der Spuk ist vorbei.«
    Wieso redet er immer von wir und uns? Ich denke an den Klub der Alphatiere und rate einfach mal. »Alex?«
    Niemand antwortet.
    »Alex, bist du das?«
    Ein Schlag ins Gesicht, überraschend, hart und ohne Vorwarnung. Ich schnappe nach Luft. Verdammt, das war ein zweiter Mann, der seitlich hinter mir steht. Als er sich bewegt, steigt mir der unverkennbare Mix aus viel zu süßem Männerparfüm und Zigaretten in die Nase, mein Körper erinnert sich sofort an den Angreifer aus Riem und überschwemmt mich mit einer Woge von Adrenalin und Angst. Dieser Dreckskerl hat etwas von einem Schatten, man sieht ihn nicht, man hört ihn nicht, aber man spürt den Schmerz. Mein Herz hämmert, als wäre ich den Fernsehturm raufgejoggt. Sind hier noch mehr dieser Schatten? Stehen sie um mich herum und weiden sich an meinem Schmerz? Ich zerre wütend an meinen Fesseln.
    »Arschlöcher!«
    Die erste Stimme lacht und es gibt ein leises Echo von dem Schatten. Und schlagartig wird mir klar, was ich hier bin, und ich ersticke fast an meiner Wut.
    Ich bin ein Opfer.
    Opfer.
    Das Wort bricht über mich herein, schlägt mir ins Gesicht, schmerzhafter als die Ohrfeige.
    Ich richte mich auf. Dadurch schneiden die Fesseln noch tiefer in meine blutigen Handgelenke, meine Oberarme werden noch stärker gedehnt. Ich verbeiße mir jeden Schmerzenslaut. Jemand, der nach Opfer aussieht, wird auch so behandelt.
    »Also, wo ist das Zeug von Lina?«
    Alex, könnte diese lächerliche Stimme wirklich die von Alex sein? Alex, der sich lachend Käsewürfel in den Mund wirft. Alex, der ehrlich entsetzt über den Tod meiner Schwester ist, aber auch der Alex, der Kimonis Foto zerfetzt hat. Ich kriege das alles nicht mit dem hier zusammen.
    Und trotzdem. »Alex, hör auf damit!«, sage ich und halte gleichzeitig die Luft an in Erwartung des nächsten Schlags.
    Doch diesmal kriege ich einen unglaublich harten Tritt ans Schienbein, mit einem Schuh, der eine Stahlkappe haben muss. Unwillkürlich stöhne ich vor Schmerz auf, aber ich verstumme sofort. Kein Opfer. Ich will kein Opfer sein.
    »Also?«
    »Ich habe nichts und ich weiß auch nichts.«
    Ein höllischer Tritt ans andere Schienbein. In meinen Augen explodieren rote Sternchen.
    Wieder diese lächerlich verstellte Stimme. »Ruby, die Märchenstunde ist vorbei.«
    Ich muss es anders machen, ich muss den Typen aus der Reserve locken. »Hast du keine Angst, dass sich deine Mutter im Grab herumdreht?«
    Nichts. Hätte Alex darauf nicht reagiert?
    Der Typ lacht und langsam dämmert mir, dass ich völlig danebengelegen habe. Und der Verdacht, der mich dann beschleicht, lässt mich erstarren. Wenn meine Vermutung stimmt, dann ist dieser Kerl so perfide und durchtrieben, dass alles mit mir passieren kann. Ich spanne meine Muskeln an, voller Panik, was ihm noch einfällt.
    Ich bin kein Opfer. Mich fressen keine Raben.
    Eine dicke Kordel legt sich von hinten um meinen Hals und zieht sich langsam und unerbittlich zu.
    Ich muss würgen, wünschte, meine Hände wären frei, wehre mich, zappele, drehe mich, winde mich. Luft, ich brauche Luft, ich werde hier nicht sterben!
    Ich gebe ein paar Geräusche von mir und kann nicht glauben, dass ich diese unmenschlichen Laute ausstoße.
    Das leise Lachen hört auf. »Genug jetzt.«
    Das Seil lockert sich.
    Ich kann nur krächzen. Wenn es der ist, an den ich denke, dann muss ich Zeit gewinnen. »Okay, okay. Ich verrate, wo ich die Sachen versteckt habe. Aber bevor ich rede, will ich hier raus.«
    »Das geht nicht.«
    Aber immerhin wird das Seil wieder abgenommen.
    Das Seil erinnert mich an etwas. Seil. Schnur. Kordel. Die Wohnung von Frau Vogel. Aber dort waren keine Seile.
    »Also?«
    »Ich muss es selbst holen«, krächze ich, »dort könnt ihr nicht rein, der Hund beißt.«
    »Leon ist so gefährlich wie Lassie mit Altersschwäche.«
    Mein Verdacht wird zur grausamen Gewissheit.
    Ich beiße

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