Dann fressen sie die Raben
nachdem ich ein paar Schritte gemacht habe, bin ich gleich wieder gestürzt, der Sack nimmt mir jede Sicht, ich vergeude nur sinnlos Energie.
Ich versuche alles, um mich abzulenken und nicht in dieser Angststarre zu verharren, aber meine Gedanken gehorchen mir nicht und so fällt mir beispielsweise ein, dass sie in Guantanamo die Verdächtigen auch mit einem Sack über dem Kopf gequält haben, so lange, bis sie verrückt vor Angst geworden sind und alles gestanden haben. Ja, ich bin Micky Maus und habe große schwarze Ohren. Ja, die Evolution hat nie stattgefunden, ja, ich bete nie mehr nach Mekka, wenn ihr nur den Sack wegnehmt.
Oder: Nein, ich hab diese Menschen nie gesehen, die hier in grauenhafter Enge in einem Verschlag in der Tiefgarage leben.
Denn das ist ja wohl das Verbrechen, um das es bei mir geht. Ich habe diese Menschen gefunden, vielleicht genauso wie Lina.
Aber wer sind sie und was tun sie hier? Freiwillig wohnt niemand so, nicht einmal die Asylanten in der umstrittenen Wohncontainer-Unterkunft in der Lerchenau, die vor gut einem Jahr geschlossen wurde, waren auf so wenigen Quadratmetern untergebracht.
Und wenn sie nicht freiwillig hier sind, werden sie gezwungen. Von Leuten, die ihren ganzen Hass auf Ausländer richten? Von den Alphatieren?
Mir wird schlecht, wenn ich an das glanzvolle Bankett denke und all die herausgeputzten Menschen und dann an dieses fensterlose Loch mit den eingeschüchterten Schwarzen. Meine Wut ist gut, denn der Zorn hält die Angst in Schach.
Auf keinen Fall darf ich anfangen zu weinen, das macht nur schwach. Es kommt nicht infrage, hier drin zu sterben. Das kann ich meinen Eltern nicht antun.
Ich habe keine genaue Vorstellung davon, wie lange ich schon hier liege, wenn ich allerdings meinen immer brennender werdenden Durst als Indikator betrachte, dann muss es schon mehr als ein halber Tag sein.
Warum kommt niemand und redet mit mir? Was haben sie mit mir vor? Dieses Herumliegen und Warten zermürbt mich mehr als der Durst. Jeder Atemzug macht dieses Plastiktütengeräusch und erinnert mich an die Geräte in Linas Zimmer. Am Anfang habe ich ab und zu mal laut geschnaubt, dachte, das würde Panik bei meinen Entführern auslösen, aber ich scheine wirklich ganz allein hier zu sein.
Um mich abzulenken, denke ich an Lina, die strahlende, lebendige Lina vom Foto. Und mir fallen die merkwürdigsten Sachen ein aus der Zeit, als wir klein waren. Was wir uns für Geschichten erzählt haben, Versionen von Hans Christian Andersens Eiskönigin – bei uns allerdings heiratete die Eiskönigin am Ende und wurde sehr, sehr glücklich. Und welche Spiele wir gespielt haben. Verstecken, immer wieder Verstecken, und Ochs am Berg. Manchmal haben wir auch Mr Singer und Schenk als Mädchenhasen verkleidet und sie Fräulein Singer und Fräulein Schenk genannt. Und seltsamerweise haben wir die beiden oft und gern hart bestraft, was umso erstaunlicher ist, denn unsere Eltern waren sehr tolerant. Wenn Singer und Schenk nicht brav wären, dann kämen die Raben und würden sie fressen, drohten wir. Wir haben ihnen dann in den lebhaftesten Farben ausgemalt, wie ihnen die Raben erst ein Auge und dann das nächste aushacken würden.
Wie grausam wir waren. Und jetzt ist Lina tot. Dann fressen sie die Raben.
Ich muss mich zwingen, wieder klar zu denken. Mich in Erinnerungen zu suhlen, hilft nicht das Mindeste. Eher im Gegenteil.
Jemand kommt herein. Ich höre ein Flüstern.
Ich werde unerwartet sanft hochgezogen, werde gezwungen zu gehen, stolpere dabei.
Stolpern, da blitzt so ein Funke durch mein Hirn, Ruby, wann bist du zuletzt gestolpert und warum? Das Stolpern erinnert mich an etwas Wichtiges, aber an was? Ich werde zu einem Stuhl geführt und dort hingesetzt, dann muss ich versprechen, die Augen zu schließen. Ich gehorche, klar gehorche ich, ich würde auch heilige Eide schwören, ab morgen nur noch Elefantenkacke zu essen. Natürlich nehme ich mir vor zu blinzeln, aber ich werde kein Risiko eingehen, denn ich will diesen Sack loswerden, ihn weg von meinem Kopf haben.
Aber dann ist das Licht dermaßen grell, dass ich trotz aller Anstrengungen nichts erkennen kann, und der Moment ist sofort vorbei, weil jemand einen weichen Schal über meine Augen gelegt hat und ihn am Hinterkopf verknotet.
Plötzlich wird mir klar, dass das ein gutes Zeichen ist. Es bedeutet, sie werden mich am Leben lassen, denn wenn sie mich umbringen wollten, dann wäre es ihnen egal, ob ich sie sehe und später
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