höchst unsanfte Weise zurück in die Gegenwart. »Geh halt endlich an dein blödes Telefon! Das Klingeln hört man schon ewig über den ganzen Flur! Das nervt!« Sprach’s beziehungsweise schrie’s und knallte demonstrativ die meist offen stehende Bürotür zu. IGNORIEREN. Marie hob ruhig den Telefonhörer ab und meldete sich.
Nachdem sie dem Kunden mehrmals die Installation seiner neuen Software Schritt für Schritt erklärt hatte, widmete sie sich erneut der Zensur ihrer E-Mails. RENATE.MÖ
[email protected]. Von Renate entdeckte Marie in ihrem Account noch einige andere Kostbarkeiten:
»Räum beim nächsten Mal gefälligst deine gebrauchte Kaffeetasse in die Spülmaschine!«
»Die Milch gehört zurück in den Kühlschrank, falls du es noch nicht gemerkt hast.«
»Ist denn das so schwer, seine Jacke ordentlich an die Garderobe zu hängen?«
»Füll beim nächsten Mal gefälligst das Papier im Kopierer nach.«
Renate hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, Maries Versäumnisse jeglicher Art per E-Mail anzuprangern. Absoluter Kindergarten, fand Marie. UNTERSTREICHEN. Während Marie und ihre Kollegen anderer Leute Kaffeetassen, Milch oder Jacken wortlos aufräumten, wenn diese es vergessen haben sollten, wies Renate gerne schriftlich auf diesen oder jenen Missstand hin. Ob sie das allerdings auch bei anderen oder nur bei ihr selbst für nötig erachtete, wusste Marie nicht.
Bei genauerer Durchsicht fand sie eine ganze Reihe dieser Ermahnungen, obwohl sie sich genau erinnerte, schon viele im ersten Ärger sofort nach Erhalt gelöscht zu haben. Sorgfältig archivierte sie die Mails in einem neu eingerichteten Ordner »Renate«. Sollte, wer auch immer nach ihr diesen Arbeitsplatz einnahm, ruhig sehen, mit welcher Art von Kollegin er es hier zu tun hatte. SPEICHERN. Vielleicht konnte sie Renate damit wenigstens nach ihrem Tod noch eins auswischen, wenn ihr schon zu Lebzeiten die Hände gebunden gewesen waren. Marie grinste leicht in sich hinein und ging in die Teeküche, um ihre Kaffeetasse ordnungsgemäß in der Spülmaschine zu verstauen. Als Marianne und Moni sie kurze Zeit später zum Mittagessen abholen wollten, ging sie zum ersten Mal seit Monaten wieder mit.
In der Kantine war Hochbetrieb. Rinderbraten mit Kartoffelpüree war schon aus, als die drei Frauen an der Essensausgabe ankamen. »Gemüsegratin und Putengeschnetzeltes hätten wir noch.« Marie nahm das Gratin, und man setzte sich an den letzten freien Tisch im Nichtraucher-Bereich.
»Habt ihr das gelesen mit der Leiche am Ammersee?« Moni schob sich eine Gabel voll Gurkensalat in den Mund und kaute das rohe Gemüse geräuschvoll. »Da hat sich so’ne Frau in ihrer Wohnung umgebracht, und keiner hat’s gemerkt. Dann lag sie da, bis man’s draußen schon gerochen hat.«
»Ich hab’s heut im Radio gehört«, vollendete Marianne die Geschichte, »die Nachbarn haben wohl die Polizei gerufen. Die hat dann die Wohnung aufgebrochen, und so wurde sie gefunden. Hat wohl nicht mehr so appetitlich ausgesehen.« Marianne rümpfte bei der Vorstellung angewidert die Nase, schob sich aber trotzdem ungerührt einen großen Bissen Geschnetzeltes mit Reis in den Mund.
Marie hatte die Meldung am Morgen nicht mitbekommen, verfolgte das Gespräch der beiden aber umso interessierter, während sie still ihr Gemüsegratin verzehrte. Die Geschichte der Selbstmörderin vom Ammersee verdarb auch ihr keineswegs den Appetit. Sie war im Gegenteil für Marie sogar planungstechnisch von Interesse.
»Die Leiche soll ja schon halb verwest und sogar skelettiert gewesen sein. Bestimmt kein sonderlich schöner Anblick. Stell dir vor, du bist ein Verwandter und musst so jemanden dann noch identifizieren.« Moni und Marianne konnten sich von dem unappetitlichen Thema gar nicht trennen.
Marie dagegen verfolgte ihre eigenen Gedanken. GEHE ZU … Das war ein Punkt, den Marie bei der Planung ihres Endes noch nicht bedacht hatte. Wenn man den beiden Frauen bei ihrem Gespräch zuhörte, wurde einem schnell klar, dass auch die rechtzeitige Auffindung des eigenen Körpers einige Organisation erforderte. Erstens würde jede derart entstellte Leiche für die Medien ein gefundenes Fressen sein. Und zweitens konnte man sich denken, wie Augenzeugen das Gesehene beschreiben würden, wenn schon nicht direkt Involvierte das Thema so ausführlich erörteten. Marie wollte in keinem Fall nach ihrem Tod als abgenagter Totenschädel in Erinnerung bleiben. SPEICHERN. Sie musste also dafür sorgen,