Dann gute Nacht Marie
hoffentlich noch einmal Glück gehabt. Marie warf einen bangen Blick auf ihr beachtliches Häufchen Olivenkerne. Im Moment verspürte sie jedenfalls keinerlei Beschwerden. Kurz überlegte sie, wann dieses Gift wohl wirken und ihr zeigen würde, ob es auch sie erwischt hatte. Denn obwohl ein toxischer Stoff inzwischen Teil ihres Plans war, hätte sie Art und Zeitpunkt seines Inkrafttretens doch lieber selbst bestimmt. Schnell drückte sie den Aus-Knopf des Fernsehers und schob das bedrohliche Thema beiseite.
Kurz darauf saß sie wieder auf ihrem Sofa und blätterte im nächsten der zu zensierenden Tagebücher. Schon viel zu lange hatte sie sich heute von allzu unwichtigen Belanglosigkeiten ablenken und aufhalten lassen. Mit dem vorletzten ihrer sieben Teil-Biografien begann Maries ziemlich ereignislose Single-Zeit, die bis zum heutigen Montag auch kein Ende gefunden hatte. Bei der Lektüre war ihr sofort klar, dass diese Phase ihres Lebens entweder rückstandslos in der Versenkung verschwinden … oder aber extrem bearbeitet werden musste. Marie entschied sich für Letzteres. Schließlich wollte sie ihrer Nachwelt etwas bieten. BEARBEITEN.
Anstelle ihres seitenlangen Lamentierens über ihr eintöniges Single-Leben klebte sie neue, sorgfältig zurechtgeschnittene Seiten ein, die sie mit interessanteren Erlebnissen
füllte. Im Fälschen hatte sie jetzt ja schon Übung. Sie erfand verschiedene One-Night-Stands mit real existierenden und frei erfundenen Männern, die mal selbstbewusstdraufgängerisch und mal zurückhaltend-einfühlsam auftreten durften. Um das Ganze perfekt abzurunden, suchte sie noch einmal ihre selbst geschriebenen Liebesbriefe heraus und gab ihren neuen Affären die dort bereits verewigten Namen. Natürlich sparte sie bei aller romantischpositiven Darstellung nicht mit ironischen und kritischen Kommentaren zur männlichen Spezies. Schließlich bekam man nicht jeden Tag die Möglichkeit, seine Meinung dazu ausführlich und ohne unterbrochen zu werden, äußern zu können. SPEICHERN.
Marie musste sich nicht vorwerfen, dass sie in ihrem kreativen Schreibprozess zu sehr von der Realität abwich. Im Gegenteil: Sie gab sich große Mühe, ihre Episoden möglichst wirklichkeitsgetreu zu erfinden. Eine Nacht mit Herrn Schmidt, ihrem egozentrisch-überheblichen Chef. Wie würde sich diese wohl gestaltet haben? Als Anlass wählte sie die Betriebsfeier vor drei Jahren. Damals war er derartig betrunken gewesen, dass er ihre Geschichte vermutlich nicht einmal würde widerlegen können.
»Schon den ganzen Abend hat er mich mit seinen gierigen Blicken verschlungen.« Zu blumig?
»Immer wieder suchte er meinen Blick und holte mich zu beinah jedem Tanz.« Zu romantisch.
»Es war nicht zu übersehen, dass Olaf Schmidt an diesem Abend ein Auge auf mich geworfen hatte.« SPEICHERN.
»Auch die Kolleginnen merkten es bald und zogen mich damit auf. Mit zunehmendem Alkoholkonsum
wurde Olaf mutiger und ausgelassener und forderte mich zum Tanzen auf. Er ist ein wirklich exzellenter Tänzer und macht sich gut in seinem anthrazitfarbenen Anzug mit schwarzem Hemd.« Nicht nur Maries Geschmack, sondern auch Schmidts Tanzkünste entsprachen durchaus der Wahrheit, nur hatte er sie an jenem Abend nicht ein Mal aufgefordert, was sie aber damals keineswegs bedauert hatte. Er war ihr schon immer unsympathisch gewesen.
Irgendwie musste sie jetzt jedoch ihren zu präsentierenden One-Night-Stand legitimieren. Ergo: Olaf Schmidt sah toll aus, tanzte wie ein junger Gott und konnte die Augen nicht von Marie lassen, was auch sie natürlich nicht kalt ließ. SPEICHERN.
»Bei unserem letzten Tanz sah er mir tief in die Augen, hauchte ›Zu dir oder zu mir?‹ und küsste mich.« Oh nein! LÖSCHEN. Von derartigen Plattheiten würde kein Mensch nach ihrem Ableben beeindruckt sein. Nichts anderes aber war das Ziel dieser Kreation.
»Gegen Ende der Feier verdrückten wir uns heimlich und fuhren mit dem Taxi zu mir, da er Angst hatte, die Nachbarn könnten etwas bemerken.« Besser keine Beschreibungen seiner vollkommen unbekannten Wohnung. Dafür gab es vermutlich kleine Image-Einbußen für ihn aufgrund seiner spießigen Einstellung. SPEICHERN.
In Gedanken zu Hause angekommen, sparte Marie nicht an der Schilderung seiner durchlöcherten Socken und ausgeleierten Feinripp-Unterwäsche. Sicher konnte sich keiner der Kollegen bei dem immer so korrekt gekleideten Herrn Schmidt derartige Entgleisungen unter der Textil-Oberfläche vorstellen.
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