Dann gute Nacht Marie
Schließlich wollte sie zwischen Einnahme und Tod keine umfassenden Geschichten mehr erleben. Und wenn sie Maibach eine derartige Story lieferte, würde er naturgemäß nur Gifte mit »Langzeitwirkung« vorschlagen. Thema verfehlt, setzen. Sechs!
Marie las noch die anderen Inhaltsangaben, verwarf sie jedoch ebenfalls und fuhr mit der Suche fort. WEITER. Einen weiteren interessanten Aspekt lieferte Patricia Melos »Wer lügt, gewinnt«, in dem ein mäßig erfolgreicher Krimiautor in einem Schlangeninstitut nach Giften für seinen nächsten zu schreibenden Mord sucht. Vielleicht etwas zu nah an ihrer eigenen Realität, fand Marie und schloss dieses Internet-Fenster wieder. Es hätte Lutz Maibach abschrecken können. Wer hatte schon gern bei allem, was er sagte und tat, die Möglichkeit im Hinterkopf, damit demnächst in einem Roman veröffentlicht zu werden?
Als sie auf eine Inhaltsangabe des Hitchcock-Klassikers »Berüchtigt« stieß, glaubte sie erneut, etwas Geeignetes gefunden zu haben. Ein Thriller um Geheimdienst und Uranschmuggel konnte eventuell wertvolle Aspekte beisteuern. Beim Weiterlesen jedoch erwies sich der berühmte Film als äußerst ungeeignet, da die Vergiftung der Protagonistin schleichend vor sich ging. Wenn sie Maibach aus Versehen in eine derartige Richtung lenkte, erdachte der vermutlich eine äußerst kontraproduktive Lösung für ihr Gift-Problem. Marie durfte bei aller spannenden Krimi-Recherche keinesfalls aus den Augen verlieren, warum sie das alles tat. Das gesuchte Gift musste also weiterhin ihre schon längst festgelegten Voraussetzungen erfüllen. UNTERSTREICHEN. Denn war die Geschichte bei Maibach einmal ins Rollen gebracht, konnte sie schlecht einfach behaupten, sie hätte die gesamte Handlung geändert.
Am Samstagabend war Marie also vordergründig genauso schlau wie vorher, hatte aber indirekt trotzdem wieder einiges gelernt. Obwohl Kasimir natürlich nicht auf den in Aussicht gestellten Kuschel-Abend pochte,
hielt sie nun zuverlässig, was sie versprochen hatte. Jetzt musste er, ob er wollte oder nicht. Der ZDF-Krimi hatte leider gar nichts mit irgendwie gearteten toxischen Stoffen zu tun, eignete sich jedoch fabelhaft als Untermalung für einen gemeinsamen Abend auf der Couch. Nach diesem anstrengenden Recherche-Marathon hatten sie sich das auch verdient, fand Marie. Sie nahm den Kater auf den Schoß und kraulte und streichelte ihn ausdauernd, bis die Kommissarin den Mörder endlich gefunden hatte. Und Kasimir schnurrte zwischendurch so laut, dass sie sich keine Sorgen mehr machen musste, dass es ihm nicht gut ging. Oder? Schließlich hatte sie sich ihr Leben mit fünfunddreißig auch anders vorgestellt. Hatte sich eher mit Mann und Kindern, nicht aber allein mit einem Kater auf dem Sofa sitzen sehen.
Vielleicht ging es Kasimir genauso. Vielleicht hatte er sich ein Leben mit einer gut aussehenden Katzendame und nicht mit einer frustrierten Singlefrau erträumt, die ganz zielsicher auf den Zustand »alte Jungfer« zusteuerte. Bei diesem traurigen Gedanken liefen Marie zum ersten Mal seit Langem wieder Tränen übers Gesicht. Weinen gehörte schon lang nicht mehr in ihr Konzept. Doch die Vorstellung, dass es ihrem treuen Kater eventuell genauso bang ums Herz war wie ihr, bedrückte sie. Ohne zu wissen, dass er selbst der Grund für Maries Tränen war, rieb Kasimir seinen kleinen Kopf an ihrem Hals und stubste sie mit der Pfote, als wolle er sie aufmuntern.
»Vielleicht hast du es ja bei Alma sowieso besser als bei mir. Da ist auf jeden Fall mehr los«, versuchte sein Frauchen das Thema in ihrem Kopf zu beenden, und wischte sich schnell die Tränen aus dem Gesicht. BEENDEN.
Als sie jetzt am Sonntagabend in ihrem Bett noch einmal darüber nachdachte, hatte Marie das Gefühl, als hätte ihr das lang unterdrückte Weinen gestern sogar ganz gutgetan. Den Sonntag hatte sie jedenfalls mit neuer Zuversicht und verhältnismäßig gut gelaunt begonnen. Die dunklen Gedanken-Wolken des vergangenen Abends hatten sich über Nacht verzogen, und auch draußen strahlte die Sonne vom blauen Herbsthimmel. Kasimir war besonders anhänglich - ob er die Streicheleinheiten auf der Couch so genossen oder die Trauer des Frauchens ihn so erschreckt hatte, war nicht festzustellen. Egal. Marie und ihr Mitbewohner verbrachten ein gemütliches Frühstück im Bett, und der Kater, der sonst nie auf ihre Kissen durfte, schien es fast noch mehr zu genießen als sie.
Zum Recherchieren oder Zensieren hatte
Weitere Kostenlose Bücher